Für eine Erweiterung der feministischen Politik gegen den §218!
Statement des Netzwerk Reproduktive Gerechtigkeit Berlin
Mit diesem Statement möchten wir, das Netzwerk für Reproduktive Gerechtigkeit Berlin, einige wichtige Gedanken in die Bewegung für eine Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in Deutschland einbringen. Wir teilen und unterstützen damit die Forderung nach der Abschaffung des Paragraphen 218 StGB! Wir wollen aber zur Diskussion auffordern, in welchem gesellschaftlichen Rahmen wir diese Forderung stellen. An welche und wessen Alltage und Lebensbedingungen denken wir dabei? Wie können wir die richtige Forderung nach Selbstbestimmung verbinden mit dem Wissen darüber, dass Entscheidungen für oder gegen Kinder nicht im luftleeren Raum geschehen? Vielmehr sind sie begleitet und manchmal auch bedingt von Formen der Prekarität, von Einschränkungen, Erniedrigungen, Unterdrückungen und Gewalt, mit denen so viele unter uns zu tun haben.
Den Begriff der Reproduktiven Gerechtigkeit haben Schwarze Feministinnen in den USA 1994 entwickelt. Sie hinterfragten damit eine feministische Vorstellung von Selbstbestimmung, die sich oft sehr stark nur auf die Einzelne und deren formales Recht konzentrierte, sich gegen eine Schwangerschaft und für eine Abtreibung entscheiden zu können. Stattdessen entwickelten sie einen breiten Forderungskatalog, der die sozialen Lebensbedingungen sowie strukturelle Gewalt und Ungleichheit in den Politiken des Kinderkriegens und der Elternschaft einbezieht. Dieser schließt auch das Recht ein, sich für Kinder zu entscheiden und Kinder unter guten Bedingungen aufziehen zu können sowie das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung.
Wir beziehen uns wie viele andere intersektionale feministische Bewegungen weltweit auf dieses Konzept und wünschen uns, dass in die aktuellen Kämpfe gegen den §218 folgende Forderungen mitgedacht, mitgetragen und gestärkt werden:
Wir fordern nicht nur formale Rechte sondern tatsächliche Zugänge für alle!
Recht auf Schwangerschaftsabbruch heißt auch, tatsächliche alltägliche kostenlose Zugänge zu einem respektvollen und sicheren Abbruch für alle zu schaffen. Bedingungen dafür sind erstens zugängliche und verständliche Informationen mit sprachlicher Übersetzung für alle. Zweitens braucht es dafür überhaupt einen gleichberechtigten Zugang zu den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung, in der Abbrüche angeboten werden sollten. Das heißt erstens Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes mit seinen Sonderregeln einer eingeschränkten Gesundheitsversorgung und zweitens Abschaffung des Denunziationsparagraphen 87 im Aufenthaltsgesetz. Denn der §87 verhindert weiter, dass Menschen ohne Aufenthaltsstatus überhaupt Zugang zu Gesundheitsversorgung haben!
Wir stellen uns dagegen, das Recht auf Schwangerschaftsabbruch mit selektiven Technologien der pränatalen Aussonderung zu verknüpfen!
Wir schließen uns den Forderungen der Kampagne NoNipt und des Netzwerkes gegen Selektion durch Pränataldiagnostik an, die sich gegen die stetige Ausweitung aussondernder Diagnostik in der Schwangerenversorgung aussprechen. Inzwischen ist die Schwangerschaft immer mehr ein Prozess der Überwachung vermeintlicher Qualitäten des Embryos oder Fötus geworden. Damit ist die klare behindertenfeindliche Botschaft verbunden, dass eigentlich gewollte Kinder lieber doch nicht geboren werden sollten, wenn sie nicht bestimmten Standards der Normalität entsprechen. Der Protest gegen die zunehmend ausgeweiteten Angebote sollte aber nicht auf dem Rücken der Schwangeren ausgetragen werden. Vielmehr wenden wir uns gegen die profitierenden Testanbieter und die Normalisierung der Pränataldiagnostik in Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung. Und wir fordern umfangreiche öffentliche und kollektive Formen der Inklusion, inklusive Kitas und Schulen sowie vielfältige Formen der unterstützenden Carearbeit, statt Mütter/Eltern allein Verantwortung zuzuschieben.
Wir fordern dazu auf, offen darüber zu sprechen, welche gesellschaftlichen Machtverhältnisse oder mehr oder weniger direkten Zwänge eine Rolle spielen könnten, wenn wir auf den Schwangerschaftsabbruch als „Lösung“ zurückgreifen!
Während die Pflichtberatung selbstverständlich abgeschafft gehört, wünschen wir uns freiwillige und für alle zugängliche Unterstützungs- und Beratungsangebote! In diesen sollte offen darüber gesprochen werden können, in welcher sozialen Lage die schwangere Person ist und unter welchem Druck sie eventuell in ihrer Entscheidung für oder gegen ein Kind steht. Wir denken an diejenigen, die möglicherweise ihren Kinderwunsch nicht verwirklichen können, weil sie keine Wohnung haben, weil sie unter kinderfeindlichen Bedingungen in Lagern leben, weil sie mit rechtlichen Unsicherheiten und queerfeindlicher Diskriminierung rechnen müssen, wenn sie nicht der Cis-Heteronorm entsprechen, weil sie Beziehungen der Gewalt ausgesetzt sind oder weil wir nicht in einer inklusiven Gesellschaft leben und es für behinderte Eltern kaum selbstbestimmt in Anspruch zu nehmende Unterstützungsangebote gibt. Es sollte kein feministisches Tabu sein, sich auch für bessere Bedingungen für das Kinderkriegen einzusetzen – ohne jede Moralisierung oder lebensschützerische Programmatik. Wir fordern auch dazu auf, in den Blick zu nehmen, unter welchen Bedingungen Menschen in Behinderteneinrichtungen Sexualität, Verhütung, Sterilisation, Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbrüche erleben. Inwiefern können sie selbstbestimmt ihr sexuelles und reproduktives Leben gestalten? Welche Gewaltsituationen spielen eine Rolle und was können wir für mehr Selbstbestimmung in den Einrichtungen tun?
Wir fordern die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs und die Abschaffung des Paragraph 218!
Wir fordern, den Lebensschützer*innen ihren Anspruch auf Lebensschutz abzusprechen! Denn sie interessieren sich nur für die Kontrolle über schwangere Körper und setzen sich nicht für das schon geborene Leben ein, weder z.B. wenn es um sexualisierte Gewalt noch um tödliche Grenzregime geht!
Wir fordern, den Lebenschützer*innen ihren Anspruch auf Unterstützung von Mutter- bzw. Elternschaft abzusprechen! Denn sie interessiert auch nicht, dass viele Menschen keine Möglichkeit haben, mit ihren bereits geborenen Kindern zusammenzuleben – sei es weil sie kein Recht auf Familienzusammenführung bekommen oder weil ihnen Kinder wegen rassistischer oder ableistischer Zuschreibungen staatlich weggenommen werden!
Wir fordern, den feministischen Blick zu weiten und Fragen reproduktiver Gerechtigkeit in dem Kampf gegen den 218 ernstzunehmen. Diese Forderungen hier sind nur ein Anfang!
Netzwerk Reproduktive Gerechtigkeit Berlin, September 2024; https://repro-gerechtigkeit.de