Interview mit einer Aktivistin der BASTA! Erwerbsloseninitiative

„eine Situation, in der man das Gefühl hat, das ist jetzt eine freie Entscheidung ob wir Eltern sein wollen oder nicht, ob hetero oder homosexuell oder polyamor, die lässt sich nicht unter den geltenden ökonomischen Bedingungen herstellen.“

Interview mit einer Aktivistin der BASTA! Erwerbsloseninitiative

BASTA! wird gemacht von Erwerbslosen, Beschäftigten mit geringem
Einkommen und Studierenden mit wenig Geld. BASTA! bietet eine
solidarische, mehrsprachige Beratung zu ALG II an, begleitet zum
Jobcenter und zum Sozialgericht, setzt jährlich über 100.000 Euro an
Rechtsansprüchen gegen das Jobcenter durch, kämpft für höhere Löhne und
bietet Seminare zu aktuellen Themen an. Als offene Gruppe soll BASTA!
ein Ort sein an dem wir uns gegen die Zumutungen des Jobcenter-Alltags
und des Arbeitsmarktes organisieren können.

Erzähl uns doch ein wenig über deinen Aktivismus bei BASTA!

Ich bin schon seit Anfang an bei BASTA!, also seit 2010. Wir haben uns als Selbstorganisation von Erwerbslosen gegründet, damals eher als Stadtteilgruppe im Wedding gedacht. Mit fünf Leuten haben wir mit den Beratungen angefangen. Jetzt machen wir gerade zweimal die Woche eine gemeinsame Beratung. Das findet in einem großen Raum statt, es kommen ziemlich viele Leute und wir beraten in Gruppen. Wir begleiten zum Jobcenter, manchmal auch zur Ausländerbehörde, oder zum Jugendamt, je nachdem. Aber eigentlich ist unser Fokus Jobcenter. Gelegentlich machen wir dort Aktionen, vielleicht einmal im Jahr. Eher in die Richtung, dass wir dann da sind und Flyer verteilen. Ansonsten sind im Austausch mit Gruppen, die ähnliche Sachen machen, oder gehen auf Demos und machen Redebeiträger. Eine Zeit lang haben wir eine Aktion gehabt, die hieß Zahltag. Dabei sind wir am Anfang des Monats vor das Jobcenter gegangen und haben die Leute gefragt, ob sie ihr Geld bekommen haben. Ganz oft ist es voll am Anfang des Monats auf dem Jobcenter, weil die Leute das Geld nicht überwiesen bekommen haben. Entweder überhaupt nicht oder zu wenig. Und dann haben wir sozusagen spontan Begleitungen gemacht. Aber der Fokus ist eigentlich momentan Beratung, und aus der Beratung heraus wenn sich das entwickelt eine Begleitung oder kleinere Aktionen bei Arbeitgebern, die Leute um ihren Lohn prellen. Das sind eher so kleinere Sachen, um Rechte durchzusetzen, oder das zu erstreiten, was einem da vorenthalten wird. Dann haben wir, wie die meisten Gruppen, ein Plenum und verschiedene Arbeitsgruppen. Ich bin momentan nur in einer Arbeitsgruppe, weil ich eine Ausbildung mache und total wenig Zeit habe. Die Arbeitsgruppe hat eigentlich gar keinen richtigen Namen, wir nennen sie vorläufig Frauen*-AG.

Was motiviert dich, seit der Gründung bei BASTA! aktiv zu sein?

Zum Zeitpunkt der Gründung war ich gar nicht so sehr im Thema, sondern es war eher Zufall. Das war in der Scherer 8, einem Hausprojekt im Wedding, in dem ich gewohnt und die Leute da kennengelernt hab, die das machen wollten. Warum ich dabeigeblieben bin? Weil ich es total bereichernd finde, dass wir eine so heterogene Gruppe sind vom Alter her. Bei uns ist alles dabei, von Anfang zwanzig bis… der Älteste ist vor zwei Jahren in Rente gegangen. Es ist also ein großes Spektrum.
Und vielleicht auch deshalb, weil es eine offene Gruppe ist, die sehr am Alltag der Leute ansetzt. Ich war schon in anderen Politgruppen aktiv und oft ist es ja so… Man hat sein Plenum und redet total viel und schreibt ganz viele Texte. Bei BASTA! dagegen machen wir viel „praktische“ Arbeit und man sieht konkret, wie sich was bewegt. Auch wenn es nur so kleine Sachen sind. Beim Jobcenter kann meistens mit einem Brief und einer Begleitung was erreichen. Bei der Ausländerbehörde ist es komplizierter, manchmal begleiten wir Leute auch sehr lange. Insgesamt ist es total sinnstiftend, dass Sachen funktionieren können, wenn man ein bisschen Druck dahinter setzt, und man gleitet nicht so in einen theoretischen Kosmos ab.
Und auch der Austausch. Wir sind jetzt vielleicht so 15 Leute auf dem Plenum, aber es gibt noch total viel Leute die das breitere Umfeld bilden. Am Mittwoch gibt es bei uns immer Mittagessen, da kommen ganz viele aus dem Kiez. Und es machen auch Leute, die bei uns in der Beratung waren, mit, weil sie das irgendwie unterstützen wollen. Unsere Beratung schafft es gut, die Vereinzelung aufzuheben. Wir haben die Hoffnung, viele zu werden, um das repressive System Jobcenter zu entlarven. Wenn man im Jobcenter sitzt, in diesem Warteraum, fühlt man sich wie der letzte Dreck. Und wenn man zu uns in die Beratung kommt, dann sind alle nett und man hat ganz ähnliche Probleme. Man kann sich schnell untereinander helfen. Und durch die Begleitgruppe lösen sich gesellschaftliche Hierarchien. Das kann jeder machen, da braucht man nicht super viel Wissen und es hilft schon echt viel, wenn man einfach nur dasitzt. Das ist dann nicht so die Ebene „Ich bin die erfahrene Person und helfe dir jetzt“, sondern ich muss auch zum Jobcenter gehen und dann kommt jemand mit, der hat das vielleicht noch nie gemacht und dadurch findet Empowerment statt.

Inwiefern arbeitet ihr mit dem Begriff der reproduktiven Gerechtigkeit?

Das ist eine sehr schwierige Frage… Also sagen wir so, wir benutzen den Begriff nicht. Die Frauen*-Gruppe die wir jetzt haben ist daraus entstanden, dass wir vor zwei Jahren die Erwerbslosenschule organisiert haben. Das war eine Workshop-Reihe zu „Was ist Hartz IV, welche Funktion hat Hartz IV und wie gehen wir damit um?“. Und dann haben wir gedacht, wie wollen was machen zu „Was heißt Frau sein und arm sein?“. Was gibt’s dabei für Strategien und welche Probleme tauchen dabei auf, oder was für Sexismus und Unterdückungsmechanismen begegnen einem im Jobcenter? Deswegen haben wir diese Gruppe gegründet.
Manche Leute in der Gruppe und ich auch würden sagen, es geht um Reproduktive Gerechtigkeit, weil super viel dreht sich um Elternschaft. Auch in der Beratung ist es eins der Hauptprobleme - wenn Leute mit Kindern beim Jobcenter sind ist das immer besonders stressig. Aber wir haben es nicht so begrifflich eingegrenzt. Wenn wir es analysieren, dann können wir es auf den Begriff bringen, aber im Austausch in unserer Gruppe sind die Themen eher konkret. Es geht sowieso immer um Zugangsberechtigungen. Und dann ist natürlich auch Elternschaft, oder auch Schwangerschaftsabbruch, oder Familie auch eine Art von Zugang, den man gesellschaftlich haben kann, oder auch nicht. Und das ist dann nochmal anders, wenn man wenig Geld hat. Dann kann man halt Sonntag mit seinen Eltern nicht ins Kino gehen, weil es da keinen Hartz IV-Rabatt gibt. Den gibt es nur in der Woche, weil man da Zeit hat. Solche Geschichten tauchen dann auf, und ich würde sagen, dass ist auch Teil Reproduktiver Gerechtigkeit, diese soziale Teilhabe. In der Frauen*-Gruppe versuchen wir genau diese Themen so zusammenzubringen, dass die Zusammenhänge sichtbar werden.

Eure Gruppe verwendet den Begriff Reproduktive Gerechtigkeit also nicht unbedingt. Würdest du dir wünschen, dass das Konzept Reproduktive Gerechtigkeit in eurer Arbeit explizit präsenter wäre? Welche Vor- und auch Nachteile kann es haben, mit euren Kämpfe an dieses Konzept anzuknüpfen?

Ich würde sagen, wir müssten uns selber erstmal zu dem Begriff bilden. Man kann Begriffe erst dann benutzen kann, wenn sie auch wirklich da sind und man sich in der Gruppe auch drauf geeinigt hat, dass sie dann auch da sind. Mit reproduktiver Gerechtigkeit könnten erstmal 50 Prozent der Leute nichts anfangen, daher würde ich es eher als Ziel sehen zu sagen: Wir wollen eine Workshopreihe machen, die zugänglich sein soll, Reproduktive Gerechtigkeit kann ein Thema sein und dann können wir den Begriff verwenden. Wir haben uns zum Beispiel auch über Biopolitik unterhalten in dieser Frauen*-Gruppe, weil wir uns gegenseitig Workshops in ganz unterschiedlichen Sachen geben. Manche sind dann über Biopolitik und Bevölkerungssteuerung, andere Themen gingen eher in eine praktische Richtung, zB. „Ich hab Stress bei der Tafel, weil ich arbeite und dann immer ein bisschen zu spät komme, und der Typ meiert mich die ganze Zeit an.“
Ich würde es nicht so machen, dass ich sage, ich habe jetzt hier so und soviel Bücher gelesen und deswegen benutzen wir jetzt den Begriff. Dann fühlen sich Leute auch schnell wieder ausgeschlossen, deswegen würde ich es eher so step by step machen. Aber an sich befürworte ich das schon, den Begriff zu verwenden. Die Frage ist halt wie man dann nicht wieder Ausschlüsse produziert.

Wie gestaltet ihr eure Angebote, damit sie möglichst zugänglich sind?

Unser Zugang ist halt die Beratung. Das ist wirklich super niedrigschwellig und dann ist es viel persönlicher Kontakt. In der Beratung gibt es auch Raum für ein politisch Gespräch, was Teil unseres Konzeptes ist. Nicht „Ich schreib dir deinen Brief und fertig“, was es so in klassischen Beratungsstellen gibt. Wir wollen uns kollektiv organisieren, um zusammen etwas zu erreichen. Dazu gehört ein Beziehungsaufbau, und darin liegt die Zugänglichkeit. Aber das geht ganz schön langsam. Wir sind eine wachsende Gruppe, aber es dauert total lange. Manche Leute, die kennen wir jetzt seit 4 Jahren, die kommen erst jetzt mal zu einer Aktion. Und ich glaube das ist es, der lange Atem. Dass man nicht sagt: „Okay, das ist jetzt die super Idee.“ Sondern es braucht eher eine Zuverlässigkeit als Gruppe. Das Plenum ist für die meisten Leute total uninteressant. Aber die Kochgruppe, die ist voll: „Ja, jetzt organisieren wir das und jetzt holen wir da und da Essen ab und wir brauchen jetzt ein Lastenfahrrad.“. Das läuft wie von alleine. Da können alle Leute easy mitmachen, und vielleicht kommen dann drei davon irgendwann in die Frauen*-Gruppe. Es ist alles so eine Netzwerksache.

Würdest du denken, dass es Sinn macht den Begriff Reproduktive Gerechtigkeit im deutschsprachigen Raum mehr zu verwenden? Wir haben es zum Beispiel noch gar nicht so wahrgenommen, dass man über Reproduktive Gerechtigkeit in Deutschland spricht.
Das stimmt, darüber hab ich auch nachgedacht. Ich würde sagen es wäre sinnvoll, denn die Form der Ungerechtigkeit die damit in ihren Zusammenhängen aufgezeigt werden soll existiert und es ist hilfreich, Unterdrückungsformen benennen zu können. Aber ich glaube Demografiekritik ist vielleicht ein Begriff, der einleuchtender sein könnte. Ich bin da selbst nicht krass in den Debatten drin - eigentlich, wenn ich mich damit befasst hab, kamen Texte auch eher aus dem englischsprachigen Raum. Vielleicht ist Reproduktion auch gar kein Wort, was oft in deutschen Texten benutzt wird, eigentlich immer eher Demografie.

Und was denkst du würde sich daraus ergeben, wenn man den Begriff in Deutschland mehr benutzt, darüber spricht und dann eben auch Sachen damit benennen kann? Denkst du, das würde neue Handlungsfelder eröffnen?

Das ist ein bisschen die Huhn-Ei-Frage. Es gibt ja total viel Leute, die sind davon betroffen und merken das auch. Geflüchtete Frauen dürfen nicht zum Frauenarzt gehen, die können sich nicht gynäkologisch untersuchen lassen [weil das Asylbewerberleistungsgesetz die Kosten dafür nicht deckt]. Da weiß jeder, dass es ungerecht ist - vielleicht würde es nochmal bei der Einordnung helfen, da reproduktive Gerechtigkeit mit ins Spiel zu bringen. Klar, es ist eine rassistische Praxis, dass manche zum Arzt gehen können und andere nicht und auch klassistisch, weil die, die eine Privatversicherung haben, die können doch hingehen. Aber wenn man reproduktive Gerechtigkeit als Konzept in die Analyse mit reinbringen würde würde, würde es vielleicht nochmal Menschen miteinander verbinden, die die Verbindung zwischen sich und den Betroffenheiten Anderer in diesem Themenfeld nicht sehen.
Ich bin mir allerdings total unsicher, wie viel Aktivismus tatsächlich von einer Theorie ausgelöst werden kann. Ich finde Theorie total interessant und auch wichtig, denn wie sollen bestimmte Unterdrückungsverhältnisse sonst nach außen dringen? Denn die Leute, die nicht davon betroffen sind, tun ja immer so, als gäbe es diese Verhältnisse nicht. Es wäre sinnvoll, um eine Kritik besser formulieren zu können. Aber ob das einen praktischen Effekt dann tatsächlich hätte in mehr Protest oder in der Kampfform…? Das gibt’s ja eigentlich alles schon, die Leute machen schon was gegen diese Zustände, nur irgendwie voneinander isoliert.
Beim Frauenstreik am 8. März, da haben sich durch die Diskussionen - was gehört alles zu Arbeit, oder wie kann überhaupt ein Frauenstreik aussehen - plötzlich total viele Leute angesprochen gefühlt. Ich glaub, so etwas könnte es vielleicht bewirken. Dass ein etwas globalerer Begriff entsteht.

Wenn du an die Beratungen denkst, die so im Kontext von reproduktiver Gerechtigkeit stehen, von welchen Erfahrungen wird erzählt, die vielleicht besonders viele Leute machen, oder die besonders wenig Leute machen?

Also das Häufigste ist auf jeden Fall Eltern sein und ein relativ kleines Kind haben, dann geht es oft um so etwas wir Kleidung kaufen, Schulsachen, oder Ausflüge. Alles was mit Kita und Schule zu tun hat, außerdem wenn die Kinder gerade geboren werden, ganzen Anträge stellen für das Elterngeld, wobei das auch ein ganz schönes Hin- und Hergeschiebe ist. Der Kinderregelsatz ist unglaublich gering, und Klamotten kaufen ist wirklich ein großes Problem wenn man jetzt nicht immer auf second-hand oder abgetragen vom Geschwisterkind zählen kann oder will, denn Kinder wachsen ja unterschiedlich schnell.
Oder eine Grundausstattung für ein Kinderzimmer. Da gibt das Jobcenter dann ein Darlehen, je nachdem, was man schon hatte. Es gibt eine Grundausstattung, aber das ist alles so sehr auf ich kauf mir alles bei Ebay Kleinanzeigen ausgerichtet. Wenn man mehr Geld braucht, dann kann man das als Darlehen bekommen.
Danach geht es eigentlich immer darum, wie krieg ich das Darlehen wieder weg, wie kann ich das abbezahlen. Das macht man aus dem eigenen Regelsatz, was das Geld dann nochmal reduziert. Das ist so das größte Problem. Oder Kinder, die nicht mit auf Klassenfahrt fahren können, weil die Schule den Zettel zu spät gegeben hat, wo drauf steht, wie teuer das ist. Und das Jobcenter hat dann zu spät das Geld überwiesen und dann können die nicht mitfahren. Solche Fälle sind dann stark von den Lehrer_innen abhängig, es gibt auch voll die netten Schulen, die sagen, du kommst natürlich mit und dann dauert es halt länger. Aber es gibt auch echt einige Kinder, die so ausgeschlossen werden. Auch von Tagesausflügen, wo es dann so um drei Euro oder um fünf Euro geht. Dann haben wir manchmal auch Fälle von Menschen die sagen, ich spare jetzt für die Zahnspange meiner Tochter, die ist jetzt sechs aber muss später bestimmt eine tragen. Sachen, die selbstverständlich sein sollten - das gehört ja eigentlich zur Gesundheitsversorgung, eine Zahnspange zu tragen -, aber man muss das selbst bezahlen. Soziale Teilhabe ist also ein großes Thema.
Und dann teilweise Geschichten von Diskriminierung am Arbeitsplatz. Viele Leute arbeiten ja in befristeten Jobs oder in Minijobs, da hat man ja eh nicht so viele Rechte. Und wenn die dann schwanger werden und die Frauen ihr Kind bekommen, dann ist es total oft so, dass sie dann noch die Mutterschutzzeit bekommen, aber wenn der Vertrag dann ausläuft, und dann werden die total oft nicht verlängert. Das muss man schließlich nicht machen, da gibt es keine Gesetze zu. Und dann verlieren sie ihren Job und das Jobcenter stresst total rum.
Also in den Büros im Jobcenter, da trauen die Mitarbeiter_innen sich ja, alles zu sagen. Da kommt dann auch Aussagen wie: Wenn man schwanger geworden ist, dann ist das ja eine Entscheidung, und wenn man infolge dessen seinen Job verliert hat man sich selbst hilfebedürftig gemacht. Das würde man ja niemandem mit einem festen Job vorwerfen. Das ist nicht die Regel, aber es kommt zumindest vor, gerade bei migrantischen Frauen, die vielleicht schon mehrere Kinder haben. Die Sprüche sind so niveaulos, ich will das gar nicht wiederholen. Leute kommen auch deswegen zum Reden zu uns. Es gibt dann einen Raum, wo man sich aufregen kann. In unsere Beratung können Leute auch voll gefrustet kommen und dann ist auch jemand da der sagt, dein Frust ist gerechtfertigt und wir finden eine Lösung. Auch wenn die Lösung erst einmal nur ist: Wir gehen da mal zusammen hin und schreiben eine Dienstaufsichtsbeschwerde wegen Beleidigung. Das ist natürlich ein bürokratischer Weg, aber es ist auch ein Weg um zu sagen, ich muss mir das jetzt nicht gefallen lassen.
Was seltener vorkommt ist dann so etwas wie Schwangerschaftsabbruch oder Verhütung. Wir hatten in unserer Frauen*gruppe einen Workshop darüber, wo man kostenlos Verhütungsmittel bekommen kann, beim Gesundheitsamt. Und wie das dann funktioniert, da muss man ja dann auch wieder ganz schön viele Formulare einreichen. Wenn wir das wissen, dann geben wir das weiter, aber es ist nicht so, dass es tatsächlich nachgefragt wird.
Ein weiteres Thema ist Wohnraum. Das ist halt eine never ending story, umziehen mit Kindern, eine größere Wohnung finden, oder aus einem Wohnheim ausziehen. Entweder versuchen wir dann Leute sehr intensiv über eine lange Zeit zu begleiten, oder wir müssen halt wirklich sagen, dass wir keine gute Ideen haben, denn es gibt diese Wohnung in diesem Preissegment nicht. Es ist natürlich frustrierend wenn man sagen muss ja, ihr braucht eine größere Wohnung, dann müsst ihr jetzt eben ein Jahr lang als Vollzeitjob eine Wohnung suchen.

Was bedeuten intersektionale Theoriebildung und Praxis in eurer Arbeit und was für Handlungsstrategien sich ergeben sich daraus?

Was wir intern viel gemacht haben ist so etwas wie ein Erzähl-Café, also dass Leute ihre Lebenssituation tatsächlich beschreiben können. Für die Gruppe bedeutet das: Erfahren, wie die jeweiligen Lebensrealitäten aussehen, zum Beispiel Biografien die von Migration oder Flucht geprägt sind, um dann gemeinsam daraus agieren zu können.
Ich hab da auch neulich erst voll viel drüber nachgedacht, denn wir haben eine Aktion gemacht bei einem Arbeitgeber, der wollte nicht das komplette Geld bezahlen wollte. Die Person, um die es ging, hat gesagt, sie würde auch weniger nehmen, sie braucht halt irgendwas… und sie will jetzt keinen Gerichtsprozess starten. Da würden wir erstmal aus unserer Perspektive sagen, na los, komm, mach das mal, du brauchst doch eigentlich das Geld und es ist doch total blöd hier für sieben Euro zu arbeiten. Sie hat aber erzählt, dass sie schon die ganze Zeit Stress mit diesen Behörden hat, so ein Arbeitsrechtsprozess kann hundert Jahre dauern und wenn ich das dann habe, dann zieht mir das Jobcenter das eh wieder ab. Sie wollte das Geld lieber jetzt, auch wenn es weniger ist.
Das haben wir dann in der Gruppe total lang diskutiert, weil das ist ja gar nicht das, was wir wollen, dass sich Leute um ihren Lohn prellen lassen. Das bedeutet dann vielleicht in unserem Fall intersektionale Praxis, zu sagen, okay wir unterstützen dich jetzt darin, auch wenn das vielleicht aus unserer Logik heraus nicht das erste wäre, was wir tun würden. Um alles Andere machen wir uns dann später Gedanken, wenn du dafür vielleicht mehr Kopf frei hast. Denn es stimmt ja, wenn sie sagt: Wer weiß ob ich in zwei Jahren überhaupt noch hier bin, wenn der Prozess vorbei ist? Das ist natürlich nicht mein Gedanke - wenn ich einen Arbeitsrechtsprozess habe, dann denke ich nicht, ahja zwei Jahre, wo bin ich denn da? Dann bin ich vermutlich irgendwo hier in der Nähe. Aber bei Menschen mit prekärem Aufenthalt ist das eben anders. Ich glaube da geht es viel darum sich auszutauschen, Rücksicht aufeinander zu nehmen, sich wirklich Zeit zu nehmen um die Ausgangslage der Leute zu verstehen.
Eine andere Frage ist vielleicht, wie zugänglich ist unser Plenum? Aktuell ist es ziemlich weiß-deutsch dominiert, obwohl zum Beispiel viele Migrant_innen bei BASTA! aktiv sind. Migrant_innen sind da und machen vielleicht drei Mal die Woche eine Begleitung, das ist total viel Arbeit. Aber an den Entscheidungen über Textveröffentlichungen oder Aktionen sind sie leider zum Beispiel nicht beteiligt, wenn sie nicht aufs Plenum kommen können oder wollen. Wir sprechen auf dem Plenum Deutsch und Englisch, aber Englisch ist eben meist auch nur Behelfssprache und Übersetzungen sind häufig fehlerhaft oder verkürzt. Das Format an sich (lange sitzen und reden) kann eine Zugangsbarriere sein, aber Sprachbarrieren sind sicherlich nochmal ein schwerwiegerender Faktor. Plenum am Abend schließt natürlich Personen aus, die Sorgeverpflichtungen für Kinder oder andere Personen übernehmen (müssen) oder auch diejenigen, die in Schichten arbeiten. Da arbeitslose Personen, die keinen deutschen Pass haben, viel mehr Druck haben zu arbeiten um ihre Zugangsberechtigung zu Sozialleistungen oder ggf. ihren Aufenthaltsstatus beizubehalten, ist das ein relevanter Faktor.
Wir haben versucht das Problem über die Schaffung von kleineren AGs zu lösen, die eventuell eine geringere Zugangsschwelle haben (weniger Leute und seltenere Treffen, nicht immer am Abend). Das hat teilweise auch geklappt. Es bleibt trotzdem ein strukturelles Problem, da geklärt werden muss wie die einzelnen AGs am Ende wieder zusammengebracht werden.
Wir wollen verschiedene Beteiligungsformen ermöglichen. Zum Beispiel möchte gerade eine Person eine Filmreihe über den Jugoslawienkrieg machen, dafür geben wir dann auch den Rahmen. Das ist auch eine Möglichkeit Themen besprechbar zu machen: Was ist deine Geschichte und wie ist deine Geschichte mit deinem hier-sein verknüpft? Wie ist sie verknüpft mit dem, was du hier für Erfahrungen machst? Und wie ist das wiederum mit uns verbunden, wenn wir uns hier begegnen? Denn da werden ja genauso immer irgendwelche Sachen reproduziert.

Wie kam es dazu, dass eure Gruppe eine Frauen*gruppe ist? Welche Themen besprecht ihr untereinander?

Wenn Leute kommen mit den Problemen, die man so aus Familie hat, dann sind es meistens Frauen, die in die Beratung kommen mit Kindern und auch eher mit den weiblichen Beraterinnen reden. Dann haben wir gedacht, wir sollten das auch irgendwie mal mit einander tatsächlich besprechen, was es für Probleme sind, um uns weiter zu bilden, aber auch um zu sagen, vielleicht braucht es den Männer-freien-Raum an der Stelle. Die meisten Leute reden nicht über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz mit einem Mann, auch nicht in unserer Beratung, auch wenn die total nett sind. Das kommt immer an uns. Die Frauengruppe eröffnet dann mehr Handlungsstrategien. Das habe ich vorhin vergessen zu erwähnen, obwohl es ein großes Thema ist, auch wenn es vielleicht nicht ganz zu Reproduktiver Gerechtigkeit passt sondern eher zu Sexismus. Sexismus am Arbeitsplatz ist als Problem sehr präsent und man kann dann halt nicht kündigen, wenn man beim Jobcenter Leistungen bezieht. Man muss irgendwie erreichen, dass man gekündigt wird und zwar so, dass es nicht so aussieht als ob man es wollte. Das ist ein krasses Problem, weil wenn man einfach sagt: „Ich werde da bedrängt“, dann sagen die: „Ja dann mach halt eine Anzeige und arbeite weiter“. Wenn das durch ist, dann hast du natürlich einen Grund zu kündigen. Aber davor brauchst du eben erst diesen ganzen Prozess und das ist eigentlich auch keine erträgliche Möglichkeit.
Die Gruppe ist jetzt eher eine Alltagssolidaritätsgruppe geworden, wo es viel Austausch gibt, auch praktischer Austausch wie ich habe das und das übrig und du kannst es haben. Aber auch wie: Wo gibt es überall umsonst zum Beispiel diese Bücherboxen oder wo kann man umsonst einfach im Wedding rumhängen, ohne dass man konsumieren muss? Von der Freien Universität gab es mal so einen Berlin-Umsonst-Reader. Und so etwas haben wir für unseren Kiez gemacht, Orte gelistet wo man kostenlos auch was mit Kindern machen kann oder mit der Familie, damit man nicht immer gleich total pleite ist, weil man 5 Eis gekauft hat. Die Ursprungsidee war diese Workshopreihe, dann ist die so ein bisschen nach hinten gerückt und es ginge eher in Richtung Austausch über und Auseinandersetzung mit Armut.

Was müsste sich denn gesellschaftlich verändern, damit Reproduktive Gerechtigkeit für Menschen entsteht, die in relativer Armut leben?

Tja, also im Grunde kein Kapitalismus. Kein Kapitalismus ist die Grundlösung. Klar kann man kleine Verbesserungen fordern: Lohngerechtigkeit zu schaffen angesichts dieses riesen Lohngaps und eines Mindestlohns, von dem man nicht wirklich leben kann. Die Löhne anzuheben oder Lohnarbeit nicht als das super Zentrale zu setzen. Überhaupt Erziehung und Haushalt anzuerkennen als Arbeit, dann würde es vielleicht auch mehr Wertschätzung dafür geben.
Aus meiner Perspektive ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass Reformen zB. im Bereich der care-Arbeit nicht zu Lasten von den Leuten organisiert werden, die dann noch weiter unten stehen. Wie halt jetzt Frauen in Führungspositionen, das bring ja trotzdem 80 Prozent der Leute überhaupt nichts. Unsere Gruppe ist auf jeden Fall eine antikapitalistische Gruppe. Man kann Klischees entgegen treten und vielleicht Stigmatisierung reduzieren, aber ich glaube eine Situation, in der man das Gefühl hat, das ist jetzt eine freie Entscheidung ob wir Eltern sein wollen oder nicht, ob hetero oder homosexuell oder polyamor, die lässt sich nicht unter den geltenden ökonomischen Bedingungen herstellen.
Insofern ist die Frage nur mit so einem Systemsturz zu beantworten, was natürlich ganz weit weggeht von dem ganzen Praktischen, was wir bei BASTA! gerade machen. Aktuell ist eben eine reformistische Tätigkeit sinnvoll, man versucht zu erreichen, dass es zumindest nicht schlimmer wird als es ist, also das zu verteidigen, was es schon gibt. Denn der Sozialabbau ist real spürbar gewesen in den letzten Jahren. Das also verteidigen um dann auf was Besseres zu kommen, das kollektiv entwickelt wird. Wir diskutieren auch zum Beispiel übers Grundeinkommen. Allerdings werden solche Ideen auch sofort vereinnahmt, da schlägt dann die FDP ein Grundeinkommen vor, bei dem es gar keine zusätzlichen Leistungen mehr geben kann. Grundeinkommen an sich ändert ja nichts, denn es ist ja keine Umverteilung. Die, die wirklich viel Geld haben, haben das dann immer noch und erhalten noch ein Grundeinkommen obendrauf. Auf jeden Fall muss man Umverteilen bevor man solche Konzepte überhaupt anwenden kann. Grundeinkommen für Kinder wäre zumindest sehr wünschenswert – ein reformistischer Vorschlag, aber fürs Jetzt erst einmal gut.

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Zur Verortung unserer Perspektiven, aus denen heraus die Interviewfragen entstanden sind, möchten wir dem Interview eine Selbstpositionierung hinzufügen.

J. ist weiblich, weiß, ihre Eltern gehören zur Mittelschicht und Arbeiter*innenklasse. Sie hat keinen akademischen Background und ist die erste Person, die in ihrer Familie studiert. C. positioniert sich als weiß, nicht-binär und queer. C. erlebt keinen Klassismus und wird gerade nicht behindert. M. ist weiß, wurde cis-weiblich sozialisiert und wird körperlich nicht behindert. M. positioniert sich als queere Femme. Aufgewachsen ist M. in einer Akademiker*innenfamilie und war nie von Klassismus betroffen. Alle Personen, die dieses Interview erarbeitet haben, sind eher in pronatalistische Diskurse verstrickt, wenn auch ambivalent.

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  • Sei dabei bei unseren (politischen) Aktionen!
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