Interview mit Saboura Naqshband

„Muslimische Frauen werden in der Presse dargestellt als die Frauen, die zu viele Kinder gebären. Sich gegen solche Narrative zu stellen gehört zu den antirassistischen Debatten um reproduktive Gerechtigkeit dazu. Zu sagen: Wir bestimmen selbst darüber, wir sind nicht nur Gebärmaschinen, wir wollen weder von westlichen Diskursen dazu gemacht werden noch von unseren eigenen communities nur in dem Licht gesehen werden.“

Interview mit Saboura Naqshband von Berlin Muslim Feminists

Saboura Naqshband ist Bildungsreferentin, Empowerment-Trainerin und wissenschaftliche Mitarbeiter*in am Deutschen Zentrum für Migrations- und Integrationsforschung (DeZIM-Institut). Sie studierte Arabistik, Politikwissenschaft und Anthropologie in London (SOAS), Kairo (AUC) und Berlin (FU). Als Mitbegründerin des Kollektivs „Berlin Muslim Feminists" und Vorstandsmitglied des Intersektionalen Mädchen- und Frauengesundheitszentrum IFMGZ Holla e.V. setzt sie sich für die Belange von muslimischen und von Rassimus betroffenen FLTI* ein. Zuletzt erschien ihre Übersetzung von Dr. Lana Sirris „Einführung in Islamische Feminismen" (2017) im w_orten&meer Verlag, Berlin.

Du bist und warst in verschiedenen Zusammenhängen engagiert, wo bist du gerade aktiv?

Wir haben als Berlin Muslim Feminists kein festes Gründungsdatum, aber ich glaube wir haben uns so vor drei Jahren zusammengetan, als es bei der Friedrich Ebert Stiftung eine Konferenz zum Thema islamischer Feminismus mit internationalen Perspektiven und Perspektiven aus Deutschland gab. Ich war in der Zeit schon sehr aktiv in der Antirassismus-Szene und People of Color Szene in Berlin und habe dann versucht alle Frauen, Inter- und Transpersonen, die ich kenne und die sich irgendwie mit antimuslimischen Rassismus auseinandersetzen, mal an einem Tisch zu bringen. Da sind so viele verschiedene Leute, die einen sind in der Wissenschaft, die anderen machen Soziale Arbeit, Kurd*innen, Palästinenser*innen, Migrant*innen, Leute mit Fluchtgeschichte und Leute die hier groß geworden sind, mit verschiedensten Backgrounds - ich dachte es wäre voll cool wenn wir zusammenkommen und irgendwie unsere Positionen zusammen artikulieren, oder uns überhaupt untereinander auszutauschen. Aus diesen anfänglichen Treffen hat sich dann wirklich so eine Kerngruppe herauskristallisiert von ungefähr sechs Leuten; wir haben uns jetzt über die letzten zwei, drei Jahre relativ regelmäßig getroffen und sind auch sehr schnell aktiv geworden. Viele von uns arbeiten in NGOs, vor allem in Migrant*innen-Selbstorganisationen, People of Color Selbstorganisationen und Antidiskriminierungsorganisationen. Eine unserer Mitgliedspersonen ist zum Beispiel bei EOTO, ein Verein der sich gegen die Diskriminierung von Schwarzen Menschen einsetzt, eine andere ist bei Inssan e.V., eine NGO die gegen die Diskriminierung von Muslim*innen einsetzt.
Wir sind sozusagen inhaltlich oder von Themen her intersektional aufgestellt. Letztens haben wir an der Technischen Universität Berlin ein offenes Forum organisiert, mit Vorträgen zu islamischem Feminismus und Aktivismus. Wir haben öfter mal Iftar, also Fastenbrechen im Ramadan organisiert. Unser erstes Iftar war im Romn*ja Archiv, da haben wir alle möglichen Verbündeten eingeladen, Muslimische und Nicht-Muslimische, und intensives miteinander gebetet. Letztens erst waren wir zusammen mit Inssan und der queermuslimischen Gruppe von Inssan bei einem Fastenbrechen bei Transgender Europe, das war auch sehr schön. Sonst haben wir auch Vorträge im Nachbarschaftshaus Neukölln organisiert. Wir versuchen so ein bisschen zu gucken, wie wir die Community hier in Berlin und Neukölln erreichen können, und viele von uns halten Vorträge zu islamischem Feminismus, Aktivismus, insbesondere auch für Mädchen, Frauen oder Jugendlichen.
Außerdem kriege ich viele Anfragen zu dem Thema Empowerment muslimischer Frauen und queerer Muslim*a und versuche dann immer meistens mit anderen Aktivistinnen zusammen, entweder aus der Gruppe oder Leute die ich sonst in Deutschland kenne, dann diese Workshops zu machen. Zum Beispiel führen wir oft in Kooperation mit FLTI*- Asten Workshops zum Thema queer Islam durch. Jetzt beim In*vision Festival mache ich etwas zusammen mit Melody, mit der ich auch das Seminar gegeben hatte, wir nenen das Sexuality and Soul Empowerment, wo wir einfach über unsere Erfahrungen als rassifizierte FLTI* in Deutschland sprechen wollen und wie sich das auf unsere Sexualität und alles was damit zusammenhängt, auf unser Leben, auswirkt.
Das sind so die zwei Bereiche, in denen ich glaube ich am meisten aktiv bin. Ich bin außerdem auch im Vorstand von Holla e.V., ein intersektionales Mädchen* und Frauen*- Gesundheitszentrum in Köln. Die Geschäftsführerin und ich geben seit letztem Jahr Fortbildungen für Pädagog*innen of Color, die mit muslimischen Mädchen arbeiten und selbst Muslim*a sind. Wir machen eine Mischung aus Empowerment, muslimisch/islamisch-feministischen Perspektiven zusammengedacht mit Sozialer Arbeit, Biografiearbeit, Austausch über Rassismuserfahrungen etc. Ich finde es spannend zu sehen, wie viele verschiedene Frauen aus jeder Generation, von Marokko, bis Syrien, von Türkei bis zweite Generation hier, wie wir von ähnlichen Diskursen betroffen sind und uns der Austausch darüber so wahnsinnig gut tut. Und auch zeigt wie stark Frauen und Queers in all diesen Kontexten sind, wir also nicht alleine sind mit den Themen.

Wie arbeitet ihr als Berlin Muslim Feminists?

Wir haben eine sehr vertrauensvolle Basis miteinander, dadurch dass wir uns über die Jahre so gut kennengelernt haben und wir uns quasi gegenseitig mit diesem Kollektiv vertrauen, wodurch jede quasi damit macht was sie will. Wir vertrauen uns gegenseitig, weil wir uns politisch gegenseitig vertrauen und wissen, dass wir alle für eine Idee von sozialer Gerechtigkeit einstehen die antirassistisch ist, antisexistisch, antihomophob, antitransphob und so weiter. Wir haben eine Whatsapp-Gruppe, und da teilen wir einfach viel von unserem Leben privat und auch politisch, weil alle sowieso in NGOs oder so wie ich oder in der Wissenschaft unterwegs sind. Außerdem versuchen wir uns regelmäßig zu treffen um zum Beispiel Themen wie die Koranexegese untereinander zu bearbeiten, da wir normalerweise mit dem ganzen Aktivismus nicht zu so etwas kommen - dabei ist das eigentlich, was uns inhaltlich zusammenbringt.
Momentan treffen wir uns bei uns privat oder in den Räumen von NGOs zum Beispiel, oder an Orten, wo wir Verbündete haben die uns die Orte zur Verfügung stellen, aber ich glaube mein persönlicher Wunsch wäre das mehr zu verstätigen und nachhaltiger zu gestalten, und dann irgendwo einen Ort zu haben, wo wir vielleicht auch ein Archiv aufbauen können. Es wäre gut wenn wir langfristig Projektgelder bekommen könnten um die Aktivitäten zu verstetigen, aber dafür braucht es auch Zeit und Ressourcen und die meisten von uns sind schon sehr stark belastet - nicht nur von der Arbeit, sondern auch weil die eigenen Familien entweder außerhalb von Europa oder prekär in Europa leben, Leute die wir mit unterstützen müssen. Und dann noch der rassistische Druck in den Institutionen, die ganzen gesellschaftlichen Debatten, nicht nur was Islam angeht, sondern auch so schwierige politische Debatten zum Beispiel in Bezug auf Palästina - das sind alles so Themen, die Leute natürlich auch ziemlich kaputt machen. Da ist glaube ich so eine Sache die von vielen weißen Feminist*innen oder auch der Mehrheitsgesellschaft überhaupt nicht wahrgenommen wird: Was macht das eigentlich mit Leuten, die ständig unter diesem permanenten Rechtfertigungsdruck sind? Dann kommt man kaum dazu irgendwie zu leben, man muss sich um leben zu können irgendwie zusammentun und sich gegenseitig darin bestärken, sodass man nicht ständig seine Existenz in Frage stellt oder nicht in Frage stellt, dass man okay ist wie man ist.

Was sind spezifische Themen, die euch gerade beschäftigen?

Beim letzten Treffen wurde viel über Scheidung und Partnerschaft geredet, wie das islamisch gesehen wird und was die Erfahrung sind - einige von uns waren entweder schon einmal verlobt oder verheiratet oder sonst irgendwas -, wie wir dazu stehen, wie wir unsere Beziehungen gestalten, wie wir das mit unserem Glauben in Einklang bringen. Queere Themen kommen auch manchmal vor. Wir hatten auch Treffen mit Akademiker*innen, muslimischen Frauen die in Tunesien, Südafrika oder Frankreich, haben Treffen mit Filmemacher*innen organisiert, manchmal intern, manchmal öffentlich, zu verschiedensten Themen. Die Frau aus Südafrika zum Beispiel, Sa'diyya Shaikh, hat ein Buch geschrieben zu Islamischer Philosophie, Sufismus, Gender und Sexualität mit der haben wir dann über ihr Buch gesprochen, und diesen Gelehrten Ibn Rushd, in Deutschland auch als Averroes bekannt, der eben damals schon gesagt hatte, dass muslimische Frauen auch zur Religion vortragen können und die auch eine besser gestellte Rolle auch in der Leitung muslimischer Gebete oder Khutba, so nennt man Freitagsreden zum Beispiel, halten dürfen. Sie hat seine Schriften aus dem 11./12. Jahrhundert aufgearbeitet.
Es geht auch viel um Rassismus in Institutionen wenn wir uns austauschen. Mutterschaft und Beziehungen sind ganz viel Thema, auch Liebe und Sexualität, Partnerschaften, Einsamkeit in politischen Kämpfen, oder auch generelle Einsamkeit. Wir unterstützen uns auf jeden Fall auf allen Ebenen, wenn irgendjemand mal Schwierigkeiten hat, egal ob finanziell oder persönlich oder politisch, wir versuchen schon füreinander da zu sein. So gut es geht.

Auf eurer Webseite schreibt ihr: „We see Islam as an unfinished project of social justice that requires us to actively offer and demand solidarity. We believe that as a community – an ummah of peoples who are oppressed – if one part aches we all need to stand together to heal from this pain. Liberation of the few is the liberation of all, Muslims and non-Muslims alike.”. Welche besonderen Aufträge ergeben sich aus dieser Lesart des Islams für eure Arbeit?

Genau, das ist unsere Mission sozusagen, daraus ergeben sich natürlich große Aufträge. Inwiefern die dann im kleinen und konkreten umgesetzt werden können, ist noch einmal eine andere Frage. Ich glaube das was uns vereint ist eine Art muslimische Ethik. Wir beziehen uns auf Schriften der islamischen Feminist*innen oder auch Interpretationen von islamischen Feminist*innen, die sich innerhalb der Religion darauf konzentrieren wollen, dass Werte wie Gerechtigkeit, Wahrheit, Barmherzigkeit eine große Rolle darin spielen. Aus den Metaphern, die wir aus dem Koran kennen, und aus meiner muslimischen, islamischen Sozialisation, konnte ich viel mitnehmen über den Umgang mit anderen Menschen, das Gestalten eines Gemeindelebens und so weiter. Im Sinne dieser Werte beziehen wir uns positiv auf unseren Glauben und setzen das in antirassistische und antisexistische Praxis um, die sich gegen jegliche Form von gesellschaftlicher Unterdrückung setzt, egal ob kapitalistisch oder transphob oder in irgendeiner Form Gewalt anwendend und Menschen unterdrückend. Wir positionieren uns dagegen, indem wir klar Stellung beziehen und versuchen diesen intersektionalen Ansatz auch innerhalb unserer communities fortzuführen. Zum Beispiel geben wir muslimischen Männern Raum, aktiv an Gleichberechtigung und sozialer Gerechtigkeit mitarbeiten zu können – sie müssen es auch, weil sie selber zum Beispiel von Rassismus betroffen sind.
Ich hab letztens ein Expert*innen-Gespräch gegeben mit Neuntklässler*innen hier in Neukölln in einer Schule zum Thema Sexualität, und ich fand es total spannend, wie offen die ganzen fünfzehn-, sechzehnjährigen Jungs waren. Die waren auch schon sehr gut auf das Thema vorbereitet durch eine Freundin, die da unterrichtet, und haben mir dann so eine Liste von Fragen gestellt: „Worauf stehst du?“, „Wie vereinbarst du das mit deiner Religion und Familie?“, „Bist du geoutet oder nicht?“... Ich fand es total interessant wie die reagiert haben als ich so Parallelen aufgemacht hab zwischen Rassismus und Homophobie zum Beispiel, weil ich glaube, dass die sich damit ganz gut identifizieren konnten und ein bisschen verstanden haben, das es nicht cool ist, blöd angemacht zu werden nur wegen dem, was man lebt, in Bezug auf Religion, in Bezug auf Ethnizität, sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität.
Das ist auch einer der Kernpunkte von islamischen Feministinnen: Daran zu arbeiten, dass alle Menschen und Lebewesen an Gerechtigkeit teilhaben können. Ausgehend von dem Glauben, dass Gott gerecht ist und die Welt gerecht erschaffen hat, und dass alle Menschen und Lebenwesen teilhaben können an dieser Gerechtigkeit zu arbeiten. Ich denke das erklärt warum wir einen intersektionalen Ansatz verfolgen, weil wir das sehr stark mit dieser muslimischen Ethik von sozialer Gerechtigkeit und von Gerechtigkeit allgemein verbinden und verknüpfen.
Genau deswegen haben wir auch Kooperationen, wie zum Beispiel ein Fastenbrechen nach der Attacke auf einen queeren Club in Orlando, bei dem viele Afroamerikaner_innen Latinx umgekommen sind. Wir haben dann Menschen aus der Latinx und Schwarzen Community mit zum Fastenbrechen eingeladen um zu zeigen, dass uns das nicht egal ist und dass wir uns miteinander solidarisieren. Und auch wenn das so ganz kleine, vermeintlich kleine, oder eher so symbolische Aktionen sind – das zeigt nochmal, wie communities doch zusammenkommen können und dieses „Teile und Herrsche“-Narrativ durchbrechen, durch das halt in allen Nationalstaaten, vor allem in westlichen, christlich dominierten Nationalstaaten, sehr stark auf unsere communities Druck ausgeübt wird.

Arbeitet ihr in eurem Kollektiv explizit mit dem Begriff reproduktive Gerechtigkeit?

Das ist eines der vielen Themen, was wir gerne bearbeiten würden, weil es auch total relevant ist für viele von uns, und womit wir uns vielleicht auch individuell schon einmal beschäftigt haben, aber wir sind jetzt noch nicht dazu gekommen, uns darüber konkret mal auszutauschen. In der Arbeit von einigen von uns mit Frauenrechtsorganisationen sind wir alle schon auf diese Themen gestoßen, vor allem auch in muslimischen Kontexten. Im Islam gibt es eine Sex-positive Haltung im Vergleich zu anderen monotheistischen Religionen, und Themen wie Abtreibung keine Tabuthemen. Solche Themen wurde schon zu Zeiten des Propheten und auch von muslimischen Rechtsgelehrten offen diskutiert, zum Beispiel Coitus interruptus [die Vermeidung der Ejakulation im Körper der_des Sexualpartner_in] als Verhütungsmethode, oder so verschiedene sexuelle Praktiken, auch Analverkehr - darüber wurde offen gesprochen damals, eher als heute, denn zumindest seit dem Kolonialismus wird nicht mehr so offen darüber geredet. Das sind auf jeden Fall Themen die noch zu bearbeiten wären, vielleicht auch in Form einer ähnlichen Arbeit wie die von Musawah, einer muslimischen feministischen Organisation in Malaysien. Die haben so Ressourcen erarbeitet für Frauen, die dann konkret z.B. in der Sozialen Arbeit oder in der Arbeit mit Institutionen und auch mit Imamen benutzt werden können, um noch mal darauf hinzuweisen, dass manche Interpretationen einfach patriarchale mittelalterliche Interpretationen sind und es da auch noch andere Lesearten gibt bzw. dass der Islam eigentlich an sich auch nicht in Opposition zu bestimmten Themen steht.

Das heißt, dass es so eher noch so ein To-Do-Thema ist, also explizit ist der Begriff noch nicht da? Du hast ja auch schon Themen genannt, die sehr eng mit Reproduktiver Gerechtigkeit verbunden sind.

Eines der Kernthemen, die uns besonders wichtig sind, ist natürlich die sexuelle und körperliche Selbstbestimmung, egal in welche Richtung, es um die Akzeptanz verschiedener Sexualitäten geht oder ob jemand Hijab tragen möchte oder nicht - die meisten von uns tragen es nicht, ich habe es zumindest mal getragen, manche haben es für bestimmte Anlässe mal getragen, andere auch früher länger mal getragen, oder tragen es nur manchmal oder so), oder ob. Für uns ist es glaube ich schon implizit klar, dass Frauen und queere Menschen über ihren Körper selber bestimmen sollten und sollen dürfen. Das ist eh schon so gesetzt als Norm bei uns, aber wir haben reproduktive Gerechtigkeit als Gruppe noch nicht intern oder extern bearbeitet oder diskutiert.

Was heißt reproduktive Gerechtigkeit für dich?

Es geht dabei um die Frage, wie wir über unseren Körper und Zugang zu Reproduktion (also Familie, Kinder, keine Kinder, Partnerschaften und so weiter) bestimmen und uns selbst definieren.
Es gibt viele thematische Anknüpfungspunkt im Islam: Einer der Gründe, warum der Islam im 7. Jahrhundert in der arabischen Welt oder dem heutigen Saudi-Arabien offenbart wurde, war, das es damals diese Praxis der Kindestötung gab, also vor allem Mädchen getötet wurden. Das wurde zum Beispiel komplett unterbunden vom Propheten. Im Koran wird beschrieben wie der Fötus in der Gebärmutter entsteht, das wurde damals schon so Schritt für Schritt festgehalten: Dass der Samen kommt und das Ei bepflanzt und die verschiedenen Schritte, dass es dann irgendwann schleimig wird und sich dass dann irgendwie festsetzt - das wird auch manchmal so als Wunder beschrieben, dass das im Koran schon so steht in verschiedenen Versen. Und dann wird nach einem bestimmten Zeitpunkt, ich glaube nach 120 Tagen, das müssen dann ja so vier Monate sein, beschrieben, dass dann die Seele eingehaucht wird von einem Engel und sozusagen dass Schicksal der Person, also die Eckdaten dann festgeschrieben werden. Im 8./9. Jahrhundert haben Gelehrte schon gesagt, dass der Fötus keine legale Person ist; das wurde vor allem in Rechtsstreiten thematisiert, bei denen es ums Erbe ging, also zum Beispiel wenn eine Frau einen toten Fötus gebärt. Das wurde viel offener diskutiert als dann viel später im modernen Zeitalter, wo wir sagen nein, es gibt keine Möglichkeit zur Abtreibung. In den meisten muslimischen Ländern werden Familienplanung und Verhütung eigentlich auch empfohlen, es gibt Programme dazu in verschiedenen Ländern, zum Beispiel Tunesien, um die Rechte von Leuten bezüglich Reproduktion in der Familie zu wahren.
Sexualität wird im Koran nicht zwangsläufig mit Fortpflanzung in Verbindung gebracht, es geht viel um Liebe und Intimität zwischen den Partner*innen und der Lust auch am Begehren und an der sexuellen Vereinigung. Das sind zum Beispiel alles gute Ansatzpunkte, um über sexuelle Selbstbestimmung oder auch Lust, Sexualität und Zusammenleben zu sprechen.
Dadurch, dass wir in Europa sitzen, beschäftigt mich ansonsten noch die Frage welche Bevölkerungsgruppen sich reproduzieren dürfen, und inwiefern das bisher reguliert und kontrolliert wurde. Wer wird sterilisiert und wer wird nicht sterilisiert oder wurde in der Geschichte sterilisiert? Die Frage stellt sich einer queeren und auch be_hinderten Perspektive als eben auch von Communities of Color.
Oder wer hat überhaupt die Möglichkeiten, sich dafür irgendwie frei zu entscheiden, eine Familie zu gründen oder nicht, und wie steht das im Zusammenhang mit dem Genozid an Juden_Jüdinnen und Rrom_nja?
Muslimische Frauen werden in der Presse dargestellt als die Frauen, die zu viele Kinder gebären - die Frauen, die irgendwie überfruchtbar wären und damit das Abendland islamisieren wollen. Sich gegen solche Narrative zu stellen gehört zu den antirassistischen Debatten um reproduktive Gerechtigkeit dazu. Zu sagen: Wir bestimmen selbst darüber, wir sind nicht nur Gebärmaschinen, wir wollen weder von westlichen Diskursen dazu gemacht werden noch von unseren eigenen communities nur in dem Licht gesehen werden. Dafür stehen wir auch als muslimische Frauen, oder muslimische feministische Gruppe.

Was reguliert den Zugang zu reproduktiver Selbstbestimmung, für euch oder für Leute, mit denen ihr arbeitet? Von welchen Institutionen, Politiken, Alltagspraxen, Behörden geht Gewalt aus?

Die Art und Weise, wie geflüchtete Frauen untergebracht worden sind, in so großen Lagerhallen, gerade auch im Zuge der erhöhten Zuwanderung um 2015 aber nicht nur. Die Menschen, die im Tempelhofer Flughafengelände untergebracht worden sind – das sind Räume, in denen sexualisierte Gewalt eine große Rolle spielt, denn Frauen die hergeflüchtet sind haben oft in den Heimatländern, auf den Fluchtrouten und dann eben auch hier durch die Securities Gewalt erlebt. Sie befinden sich in einer sehr vulnerablen Position, die oft ausgenutzt wird, das ist auf jeden Fall kein Einzelfall.
Klasse spielt auf jeden Fall auch eine große Rolle. Flucht und Klasse im Sinne von, aus welcher Schicht kommt man, aus welchen finanziellen Verhältnissen kommt man, dass man überhaupt irgendwie aus der eigenen Familie rauskommt und überhaupt seinen eigenen Weg gehen kann - das sind ja Fragen, die oft vergessen werden, die auch damit zusammenhängen. Inwiefern kann ich mir leisten aus den Strukturen wegzugehen die ich kenne, die mir Sicherheit bieten sozusagen, also zumindest Überlebenssicherheit?
Und dann Zugang zu Informationen. Klasse spielt auch eine große Rolle, wenn es um Zugang zu Informationen über gesundheitliche Themen und Themen körperlicher Selbstbestimmung geht.
Mit dem Holla e.V haben wir schon vor einiger Zeit eine Broschüre herausgebracht, die nennt sich „Es gibt kein Jungfernhäutchen oder Mythos Jungfernhäutchen“. Darin wird z.b. darüber aufgeklärt, dass sich die Mädchen alle keinen Stress machen müssen, dass es halt ein Schleimhautkranz ist, um eben die ganzen Mythen die damit in Verbindung stehen aufzubrechen. In meiner Jugendzeit habe ich selbst zum Beispiel keine Informationen zum Thema Sexualität bekommen, weder in der Schule so richtig noch in meiner Community. Gleichzeitig war natürlich der Druck hoch, irgendwie einen Partner zu finden und dann innerhalb einer geregelten Ehe Sexualität zu leben. All diese Dinge sind natürlich schon Themen, die uns dann beschäftigt haben, und beschäftigten uns auch in der Gruppe.
In unseren Communities haben viele von uns Erfahrung mit der physische und psychische Gewalt gemacht, die von Institutionen ausgeht. Gerade wenn es um Fluchterfahrungen geht, um Armut und Klassismus, um Zugang zu Räumen, in den man überhaupt irgendwie darüber lernen kann, was für Rechte man hat. Oder wie die legale Situation in Deutschland ist, was man da für Möglichkeiten hat.
Je privilegierter oder je schwieriger die eigene soziale Lage in der Gesellschaft ist, desto schwieriger sind so Fragen wie z.B. einen Schwangerschaftsabbruch oder Kinder haben, gerade auch als queere Frau und queere Frau of Color. Man muss verschiedenen Arten von Druck standhalten und dann auch noch überlegen, ob man irgendwie selber eine Familie gründet. Das ist glaube ich etwas, was wir uns weniger leisten können als zum Beispiel weiße cis-Frauen, für die es ja sowieso schon schwierig genug ist. Wenn man dann noch irgendwie queer oder Trans oder of Color ist - da kann man sich ausrechnen wie schwierig es ist überhaupt irgendwie klarzukommen, geschweige denn die Ressourcen zu haben um verschiedene Lebensentwürfe leben zu können.

Wie werden Aspekte der reproduktiven Gerechtigkeit in islamischen Schriften behandelt?

Es gab schon in islamischen Schriften sexpositive Haltungen, da sexuelle Aktivität und Fortpflanzung nicht unbedingt im Koran miteinander verknüpft werden, sondern das eine auch für sich stehen kann. Und in präkolonialen Zeiten gab es viel offenere Diskurse, vor allem durch dieses rechtliche System der oft als böse dargestellten Scharia. Scharia innerhalb der islamischen Theologie bedeutet eigentlich Weg zur Quelle. Da sind viele Prinzipien drin, die eigentlich Lebensbejahend sind. Unter anderem, dass Menschen ein gutes Leben haben sollen, ein sicheres Leben, ein gesundes Leben und so weiter. Daraus könnte man dann zum Beispiel auch schließen, dass es für Frauen richtig, wichtig und gesund ist, über ihren eigenen Körper zu bestimmen. Wenn man an diese legalen Diskurse anknüpft kann man also sagen, damals wurde schon über Leben mit Seele und Leben ohne Seele offen diskutiert. Aufgrund dieser Vorstellung über Körper und Sexualität kann man Frauen aus einer islamisch feministischen Perspektive auch viel mehr Möglichkeiten eröffnen, indem man bestimmte Interpretationen des Islams infrage stellt: Sowohl mittelalterliche, männliche Interpretationen als auch kolonial beeinflusste Interpretationen. Dazu zählen auch Rechtssysteme, die in vielen muslimischen Ländern durch koloniale Gesetzgebungen eingeführt wurden, insbesondere bezogen auf Homosexualität. In den USA gibt es bereits interreligiöse Koalitionen, die sich zusammentun, um aus religiösen Perspektiven heraus für Themen wie reproduktive Gerechtigkeit und die Selbstbestimmung von Frauen einzutreten.
Während es im Koran eher eine positive Haltung gegenüber Sexualität gibt, stehen teilweise die Aussprüche des Propheten dazu im Kontrast, die über die Jahre gesammelt wurden und normalerweise auch sehr konkret belegt werden - die Kette der Überlieferungen wird in den sogenannten Hadithen, also in den Aussprüchen des Propheten genau belegt, und daran sieht man inwiefern das wirklich ein Ausspruch war oder nicht. Die Hadithe sind oft vielmehr von so männlichen Vorstellungen geprägt von „die Frau ist nur so eine Gebärmaschine“ und „es sollte nur deswegen geheiratet werden“, was aber überhaupt nicht die ursprüngliche Ansicht des Propheten oder die, die im Koran beschrieben ist, darstellt. Islamische Feminist*innen arbeiten damit und sagen, da müssen wir noch einmal genauer drauf gucken und da müssen wir zeigen, dass ist eine Macho-Attitüde aus dem vierten Jahrhundert, die eigentlich mit der ethischen Botschaft des Korans und der Religion nicht viel zu tun hat. Und dass halt auch Verhütungspraktiken (wie z.b. der Coitus Interruptus), die schon in der vor-arabischen Zeit und auch danach praktiziert wurden, vom Propheten gebilligt wurden. Es war also vollkommen in Ordnung, Sex um der Lust willen zu haben und nicht nur um sich konstant fortzupflanzen. Das Einzige, was halt wichtig war, ist die Kindestötung zu vermeiden, weil das mit einer der Grundsätze war, die dann mit dem Islam kamen: Dass Kinder verschont werden sollten, und die Vorstellung, dass Gott für sie sorgen wird auch wenn die finanzielle Lage schwierig ist. Damals war es ja auch eine Frage von überlebt man oder nicht, daher kamen die Kindstötungen von Mädchen.
So gesehen könnte man sagen, dass damals teilweise aufgeklärtere Zustände herrschten als jetzt in vielen Teilen der Welt, inklusive Europa. Und ich glaube das sind so ein paar Ideale an die wir anknüpfen können.

Welchen queeren islamischen Narrative findest du spannend?

Das Buch von Ali Ghandour ist spannend, weil er einfach aufzeigt, wie viele Schriften es schon zu diversen Themen bezüglich Sexualität gibt. Muslimische Imame, die sich als schwul geoutet haben und gleichzeitig weiter muslimische Gelehrte bleiben wollten, oder auch Gebetsvorsteher, haben zum Beispiel versucht, gerade die schwierigen Geschichten auch innerhalb des koranischen Textes, z.B. Sodom und Gomorrha, neu zu interpretieren. Anstatt die Diskussion auf Homosexualität zu fokussieren, wurde dann gesagt, es geht eigentlich eher um Konsens und die Einhaltung von gegenseitigem Einverständnis. Dass sich die Grenzüberschreitungen, die in der Geschichte von Sodom und Gomorrha berichtet werden, nicht auf Sex zwischen Männern beziehen, sondern darauf, dass die Menschen, die Lot auffordern, seine Gäste auszuliefern, das Gastrecht nicht beachtet haben und die Grenzen der Gäste überschritten haben, also eigentlich sexuelle Gewalt ausgeübt haben. Das ist die Handlung, die verpönt ist und nicht passieren sollte.
Begriffe wie Homosexualität gab es ja auch zu der Zeit nicht, entsprechend sind auch keine im Koran festgeschrieben. Vielleicht haben muslimische Gelehrte, je nachdem was der Trend der Zeit war - vor dem Kolonialismus, nach dem Kolonialismus -, solche Akte dementsprechend verurteilt, beurteilt oder teilweise auch erlaubt. Ali Ghandour beschreibt, dass es verschiedene Interpretationen von Analsex gab, also halt minoritäre, aber dass sie trotzdem diskutiert wurden und dass es keine Scham gab, darüber zu sprechen, nicht alles sofort als verboten dargestellt wurde. Anders als es heute oft in muslimischen Ländern oder communities der Fall ist, dass man eigentlich gar nicht offen darüber reden will und gar nicht weiß was in der islamischen Geschichte, Theologie, Rechtsschreibung eigentlich schon alles existiert hat. Ich glaube wir müssen zu der Offenheit dieser Debatten zurückkehren. So langsam sehe ich das in Deutschland auch passieren, Muslim*innen die mit den konservativen Vorstellungen brechen oder auch von den Debatten genervt sind und jetzt auch ihre eigenen Foren gründen, in denen auch kontroverse Themen diskutiert werden können.
Was queere Perspektiven angeht, da gibt es heutzutage eigentlich schon einiges dazu, auch wenn die Lebensrealität von jungen queeren Muslim*innen immer noch nicht so richtig angekommen ist. Sowohl islamischer Feminismus als auch queere muslimische Debatten sind irgendwie sehr marginalisiert. Manchmal haben muslimische Feminist*innen wie auch islamische Feminist*innen auch Erfolge, zum Beispiel wie jetzt auch in Tunesien, Marokko oder Malaysien, wenn dann doch Rechte von Frauen gestärkt werden und sich die Rechtslage verändert durch ihre Argumentationen. Aber innerhalb der weltpolitischen Lage glaube ich sind Themen wie Islam oder Frauenrechte oder Rechte von sexuellen Minderheiten total stark umkämpfte Themen, mit denen Politik gemacht wird und mit denen auch Kriege geführt werden. Es ist also ein weites Feld, und ich hoffe dass wir mit dieser Tropfen-Arbeit irgendwie ein Stück weiterkommen und auch zeigen, dass man oft widersprüchliche Lebensentwürfe lebt - dass kennen glaube ich alle -, aber dass der innerliche Druck zumindest nicht so groß sein muss. Wir zeigen, dass es Menschen gibt, die diesen Struggle teilen, die auch versuchen verschiedene Lebensentwürfe und Identitäten miteinander in Einklang zu bringen. Was nicht immer einhundertprozentig möglich ist in der gesellschaftlichen Realität in der wir leben, aber es sollte zumindest versucht werden.
Man kann sich nur so gegen Rassismus und Rechtspopulismus wehren, in dem man irgendwie zusammenkommt und nicht die ganzen rassistischen Vorstellungen, die über Muslime kursieren, internalisiert und dann versucht, sich von seiner eigenen Community abzugrenzen. So eine Abgrenzung macht zum Beispiel für uns gar keinen Sinn - wir denken schon, dass wir an diesen Themen innerhalb der Community arbeiten müssen und mit der Community zusammen, so weit es halt geht. Natürlich mit Konflikten, aber innerhalb dieser eigenen Räume, die in Deutschland sowieso erst im Entstehen sind und für die man auch immer noch kämpfen muss, da wird einem nichts geschenkt.

Wie sprecht ihr in eurem Kollektiv über sexuelle Lust? Ist das ein Thema, dass ihr konkret bearbeitet, oder etwas das eher so beiläufig passiert?

Dinge konkret bearbeiten ist sowieso schwierig solange wie wir noch keine festen Strukturen haben. Wir werden oft darauf angesprochen, weil unsere Themen eben so heiß sind, aber wir kommen eigentlich kaum dazu unsere eigenen Themen zu bearbeiten. Ich glaube, das ist auch noch einmal ein wichtiger Punkt: Zu wissen, dass es ganz konkret Zeit, Ressourcen, Geld und Räume braucht um Themen anzugehen. Wir tauschen uns fortlaufend darüber aus, weil es natürlich auch einen großen Teil unseres Lebens ausmacht, neben dem politischen Teil würde ich sagen sprechen wir darüber am meisten. Und ja, wir hatten schon interessante Diskussionen auch über wie sexuell frei lebt man oder wie sehr bedeckt man sich oder nicht. Eine unsere Fastenbrechen-Diskussionen war zum Beispiel zum Thema Bescheidenheit, oder modesty, was bedeutet das für uns und wie interpretieren wir das. Wir haben dazu viel über nachhaltigen Konsum gesprochen. Unter uns gibt es verschiedene Formen davon, islamische Normen oder Leitlinien zu leben oder nicht zu leben, oder verschieden zu interpretieren. Das sind halt so ganz spannende, verschiedene Positionen, die dann einzelne unter uns auch einnehmen - sogar auch unter queeren Frauen* manche, die trotzdem den Hijab tragen würden, gerade um dieses Ideal der Bescheidenheit auszuleben, was ja interessant ist, weil man sowieso schon soweit außerhalb der Norm der Religion steht und dann trotzdem so religiöse Werte versucht weiterzuleben und halt versucht zu sagen, dass man, bevor man jetzt irgendwie Sex mit irgendjemanden hat, zum Beispiel die Person erst kennenlernt und das vielleicht eher in ner Ehe machen würde. Und dann gibt es Leute, denen das nach Außen hin total egal ist, wie sie jetzt angezogen sind oder mit wem, oder mit wie vielen Leuten sie jetzt ihre Sexualität leben und das ist auch okay so, wir kommen da irgendwie trotzdem zusammen.

Wie sehen eure Utopien als Kollektiv aus, oder auch deine eigenen?

Sowohl in Bezug auf das Thema Freiheit als auch auf das Thema Utopien ist es im Angesicht der gegenwärtigen politischen Lage schwierig, eine paradiesische Utopie - um ein religiöses Konzept zu nutzen - zu beschreiben. Es passiert einfach so viel Scheiße überall, Muslim*innen in Indien werden gerade gelyncht, in Kenia in Konzentrationslager gesteckt; dann geflüchtete Menschen, die nach Deutschland kommen, oder nach Europa versuchen zu fliehen und zu hunderten jede Woche im Meer sterben. Das ist so eine perverse Situation, von den USA ganz zu Schweigen. Ich glaube wir leben gerade in einem Zeitalter, in dem sozusagen Ungerechtigkeiten erhärten und Macht und Gier, also in Bezug auf ökologische Fragen, überhand nehmen und wir schon wieder vor Fragen stehen in was für faschistischen Verhältnissen wir teilweise leben, also egal ob in Europa oder Asien oder oder Nordamerika, und ich glaube im Angesicht dessen ist so eine Arbeit von Solidarität und sich gegenseitig unterstützen und auch nach außen zu unterstützen extrem wichtig. Das ist ja zum Beispiel an der Grenze zu Mexiko passiert, als Juden und Jüd*innen gegen die Politik gegen Migrant*innen und migrantischen Kids protestiert haben. Und sich muslimischen Familien dazu bereit erklärt haben, die Kids von Einwander*innen, die in Konzentrationslagern an der Grenze festsaßen, zu sich zu nehmen um sie dann wieder mit ihren Familien zu vereinigen.
So konkrete solidarische Praxen sind glaube ich gerade total wichtig, das wäre also eigentlich eher die Utopie, dass wir das mehr tun, und dass wir uns weniger in unser neoliberales kleines Schneckenhäuschen zurückziehen. Das ist auch ein Appell an uns, also an mich selber und an alle anderen, das mehr zu tun, weil es glaube ich auch immer notwendiger wird.
Ansonsten wünsche ich mir natürlich ein gesundes und sicheres und erfülltes Leben für alle muslimischen Menschen, queeren Menschen, alle Menschen eigentlich, gerade diejenigen, die von historischer Unterdrückung betroffen sind, waren und immer noch sind, an verschiedensten Ecken und Enden dieser Welt.
Und dass wir es schaffen uns so miteinander zu solidarisieren, dass wir die negativen Auswirkungen von Machtsystemen irgendwie abfedern können, weil die werden auf jeden Fall stark ausfallen mit der ökologischen Krise, da habe ich nicht so viel Hoffnung.
Ich glaube das ist auch einer der wenigen Gründe warum ich mich immer noch im religiösen Kontext verortet sehe, weil es einfach bestimmte Dinge und Werte gibt, sowohl im Umgang miteinander als auch in der eigenen Lebensphilosophie, die auch in der politischen Arbeit wichtig sind. Das kennen wir auch aus dem Holocaust zum Beispiel, dass so eine gewisse Hoffnung zu haben total wichtig ist und auch lebensspendend oder Widerstands-spendend sein kann. Vor allem auch ganz simpel ein gutes und gütiges Miteinander zu leben, zu praktizieren und zu entwickeln. Wir verlieren auch immer mehr das Gefühl dafür, was das eigentlich sein soll und religiös inspirierte Quellen können zum Beispiel helfen sich daran immer wieder zu erinnern, dass wir damit nicht alleine.
Der Sinn dafür, dass es die Utopie von Gerechtigkeit gibt – vielleicht nicht unbedingt im diesseits - ist auf jeden Fall sehr stark im Islam. Und der Grundsatz ist, dass wir alles menschenmögliche tun müssen, um das zu praktizieren und umzusetzen. Genau, das ist das was wir mit tun können, um die Gesellschaft aber auch das eigene Leben zu verbessern oder nach ethischen Prinzipien zu handeln, mehr miteinander zu leben, anstatt nebeneinander oder gegeneinander.

Was willst du Leser_innen dieses Interviews noch mitgeben?

Für alle diejenigen, die sich kritisch mit feministischer Gerechtigkeit und reproduktive Gerechtigkeit auseinandersetzen ist glaube ich wirklich der Punkt der Solidarität zentral. Ich glaube wir sind alle an einem Punkt gekommen, wo wir gerade von der weißen Mehrheitsgesellschaft Solidarität erwarten, weil es einfach reicht - vor allem seitdem das mit dem NSU bekannt wurde und jetzt auch sogar christliche Politiker getötet werden und es trotzdem kein Aufschrei in der Gesellschaft gibt.
Es ist allerhöchste Zeit, dass sich weiße Menschen, die in der Mehrheitsgesellschaft gut positioniert sind, aber auch diejenigen, die prekär leben, mit Themen von Antirassismus beschäftigen und nicht auf diese ganzen rechtspopulistischen, elitären islamophoben Diskurse reinfallen. Dass sie sich kritisch mit den Themen beschäftigen und realisieren, das Menschen Menschen sind, und Frauen Frauen und Queers Queers und das wir alle irgendwie ein sicheres und gesundes Leben leben wollen und dass wir auf der Basis zusammenkommen - und nicht auf der Basis von „wer hat welche Kultur“ oder „wer hat welche Religion“. Also wahrscheinlich ist das jetzt gerade eine Art feministischer Appell.
Verbündete sein muss auch konkret umgesetzt werden. Das bedeutet Ressourcen zu teilen, Zugänge möglich zu machen, Türen zu öffnen, institutionen Räume zu geben. Und auch darauf zu achten, wer mit im Raum ist: Sind da andere Sozialarbeiter*innen of Color, sind da muslimische Sozialarbeiter*innen, braucht die Person mit der ich arbeite vielleicht gerade einen Zugang zu jemanden mit der sie vielleicht über diese spezifische Thematik reden kann oder jemand, der oder die Rassismus versteht? Oder reproduziere ich gerade in dem Moment rassistische Ideen oder Stereotype?
Wie kann ich über Rassismus in meiner eigenen Familie aufklären und sprechen? Das ist auch etwas, das viele lieber vermeiden.
Wie kann ich mich dagegen engagieren, dass diese Solidarität zerbrochen wird? Denn gerade Organisationen und Institutionen, die Menschenrechtsarbeit machen, oder halt progressive Arbeit in der Gesellschaft oder antifaschistische Arbeit, stehen natürlich viel stärker unter Druck. Und denen werden gerade Ressourcen weggenommen, weil rassistische, rechtsradikale Parteien, könnte man eigentlich sagen, so viel Raum gewinnen in der Öffentlichkeit, in verschiedenen Gremien sitzen und Leute wie uns halt fertig machen. Oder eben uns und den NGOs, die uns unterstützen, die Gelder streichen wollen.
Es sind schon ganz konkrete, existenzielle Fragen damit verbunden, welche Diskurse aufrecht erhalten bleiben in der Gesellschaft und ob eine Mehrheitsgesellschaft dem gegenüber apathisch steht oder sich aktiv engagiert. Wir engagieren uns, weil wir es halt müssen, wir haben gar keine andere Wahl, sonst würden wir verrückt werden wortwörtlich, aber ich glaube ich erwarte mir da mehr Bewegung, mehr Engagement und Aktivismus auch von Seiten der weißen Mitte. Also wenn man das ernst nehmen würde mit „nie wieder“, dann sollte man das Wort in die Tat umsetzen

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Zur Verortung unserer Perspektiven, aus denen heraus die Interviewfragen entstanden sind, möchten wir dem Interview eine Selbstpositionierung hinzufügen.

Das Interview wurde von einer weißen nicht-binären transmaskulinen Person aus der oberen Mittelklasse geführt, die geringfügig von Ableismus betroffen ist, aber gesellschaftlich nicht als behindert markiert wird. N´s Reproduktionsfähigkeit fällt zum Teil in pronatalistische Diskurse (als weiße*r größtenteils ableisierte*r Akademiker*in), aber auch in antinatalistische Diskurse zur Reproduktion von queeren und trans* Menschen. Die Erarbeitung der Interviewfragen fand gemeinsam mit P, einer weißen lesbischen Person aus der bürgerlichen Mittelklasse statt. Die Reproduktionsfähigkeit der Person ist somit in pronatalistische Diskurse zur Reproduktion weißer Akademiker*innen eingebunden, jedoch auch in antinatalistische Diskurse zur Reproduktion queerer Personen.

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