Der Begriff Reproduktive Gerechtigkeit kombiniert reproduktive Rechte und die politische Zielvorstellung sozialer Gerechtigkeit.
Reproduktive Gerechtigkeit bedeutet
- das Recht, schwanger zu werden, Entscheidungen über Entbindungsmöglichkeiten zu treffen und Kinder zu haben
- das Recht, eine Schwangerschaft zu verhindern oder abzubrechen
- das Recht, Kinder frei von institutioneller und interpersoneller Gewalt großzuziehen
Der Begriff wurde 1994 von Schwarzen US-amerikanischen Feministinnen entwickelt. Auf einer pro-choice Konferenz in Chicago organisierten damals einige Aktivistinnen ein Treffen von und für Schwarzer Frauen. Sie stellten im Austausch miteinander fest, dass in den Debatten in den USA um das Recht auf einen legalen und sicheren Schwangerschaftsabbruch, die entlang der sogenannten „pro-life“ und „pro-choice“-Fronten verliefen, in erster Linie die Lebensrealitäten weißer cis-Frauen aus der Mittelschicht abgebildet wurden. Das Konzept der „freien Entscheidung“ [choice] allein war aus ihrer Perspektive nicht dazu geeignet, politische Forderungen zu formulieren, die für die Schwarze Community in Bezug auf Körper, Reproduktion und Sexualität relevant waren.
Schwarze Menschen und insbesondere Schwarze Frauen gehören in den USA historisch zu den Gruppen, deren Reproduktionsfähigkeit aus ökonomischen und eugenischen Motiven kontrolliert und ausgebeutet wurde. Die gewaltvolle Geschichte ihrer reproduktiven Unterdrückung zieht sich von der Versklavung bis hin zur Stigmatisierung alleinerziehender Afroamerikanischer Mütter als sogenannte „welfare queens“, die angeblich Kinder zeugen um den Sozialstaat auszunutzen. Schwarze Frauen waren wie auch Native Americans und Frauen of Color von Politiken betroffen, die die Anzahl ihrer Kinder reduzieren sollten, beispielsweise über die Kopplung von sozialstaatlichen Leistungen an Sterilisierungsprogramme oder die gezielte Vermarktung langfristig wirkender hormoneller Verhütungsmittel.
Das neue Konzept der Reproduktiven Gerechtigkeit sollte umfassende Selbstbestimmung in Bezug auf Reproduktion einfordern und dabei die Erfahrungen von Schwarzen Communities und Communities of Color als Ausgangspunkt für eine Analyse der gesellschaftlichen Funktion reproduktiver Unterdrückung setzen. Konkret bedeutet das, dass die Frage nach der Entscheidung für oder gegen Elternschaft im Zusammenhang mit dem gesellschaftlich-politischen Kontext bearbeitet werden muss, der insbesondere die Handlungsspielräume marginalisierter Personen reguliert. Dazu zählen beispielsweise kapitalistische ökonomische Verhältnisse, die Regulation der Migration, Polizeigewalt und die Gefängnisindustrie sowie der Klimawandel.
Reproduktive Gerechtigkeit unterstreicht deshalb die Verbindung von reproduktiven Rechten mit Menschenrechten und ökonomischer Gerechtigkeit.
Seit den 90er Jahren sind in Nordamerika neben Pionieren wie „SisterSong – Women of Color Reproductive Health Collective“ immer mehr Organisationen und Netzwerke von Frauen und Queers of Color entstanden, die sich im Bereich reproduktiver der Rechte und Gesundheit nach dem Modell der Reproduktiven Gerechtigkeit für die Belange ihrer Communities einsetzen. Das Konzept wurde auch von Gruppen und Bewegungen außerhalb des US-Kontextes aufgegriffen, zum Beispiel in Südafrika, Großbritannien oder dem Libanon. Der Begriff der reproduktiven Gerechtigkeit hat mittlerweile einen so großen Bekanntheitsgrad erreicht, dass er nun auch von Organisationen aufgegriffen und angeeignet wird, die im Grunde immer noch mit „pro choice“-Inhalten arbeiten.
Klimawandel und Schwangerschaftsabbruch zusammen denken? Das klingt abstrakt? Wir laden euch dazu ein, in den von uns geführten Interviews zu stöbern, und selbst zu entdecken, welche Zusammenhänge zwischen den oben genannten Themen bestehen können.
Mehr Informationen zur Bewegungsgeschichte des Konzepts und den Bezügen zu anderen Konzepten, beispielsweise der Sexuellen und reproduktiven Gesundheit und Rechte (Menschenrechte im Bereich der Sexualität und Reproduktion, bei der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo 1994 festgehalten) finden sich hier [auf Englisch].