Interview mit Daniel Bendix

"Kämpfe müssen sich verbinden, wenn es hier keine Kämpfe gibt, dann können wir uns auch nicht mit Kämpfen dort verbinden, und dann wird es halt Entwicklungshilfe."

Interview mit Daniel Bendix

Daniel Bendix ist Professor für Globale Entwicklung an der Theologischen Hochschule Friedensau. Daniel ist Mitglied von dem Verein für postkoloniale, machtkritische Bildungsarbeit glokal und aktiv in dem transnationalen Netzwerk Afrique-Europe-Interact für Bewegungsfreiheit und selbstbestimmte Entwicklung.

Wer bist du und wofür kämpfst du?

Ich bin der Ausbildung nach Politikwissenschaftler, habe in Berlin und in Lausanne studiert und dann in Manchester in International Development Politics promoviert. Jetzt bin ich nach meiner Habilitation in Kassel an einer kleinen privaten adventistischen Hochschule in Friedensau, in Sachsen-Anhalt, angesiedelt und seit zwei Wochen darf ich mich Professor nennen. Dort unterrichte ich in dem Masterprogramm International Social Sciences.

Wofür ich kämpfe… Ich bin eigentlich seit Anbeginn meines Studiums bei AfricAvenir gewesen - ein Verein der sich für ein anderes Bild von Afrika in Deutschland einsetzt, in Kamerun gegründet wurde und in Berlin eine Dependance hat. Für mich war das Teil von einem antirassistischen, antikolonialem Engagement. Das Themenfeld ergibt sich bei mir vor allem aus der Familiengeschichte heraus, da mein Vater zu Apartheidszeiten in Südafrika aufgewachsen ist und nach dem Ende der Apartheitszeit in Lesotho und Südafrika in der Entwicklungszusammenarbeit gearbeitet und mich mitgenommen hat, als ich Jugendlicher war. Da fing mein Interesse an, an Nord-Süd-Beziehungen und Ungleichheit und vor allem Fragen von Rassismus und kolonialem Erbe.

Was bedeutet Reproduktive Gerechtigkeit für dich und wann hast du das Konzept kennen gelernt?

Ich hab mich vorher viel mit reproduktiver Gesundheit und reproduktiven Rechten beschäftigt. Dazu habe ich auch schon meine Diplomarbeit geschrieben, später meine Doktorarbeit ebenfalls und danach auch weiter dazu geforscht – mit Susanne Schultz.

Reproduktive Gerechtigkeit hab ich vor zwei Jahren das erste mal gehört, als Susanne Schultz und ich über Familienplanung und deren Rolle in der internationalen Entwicklungspolitik geforscht haben und uns auch immer wieder fragten, inwiefern man auch einen Gegenentwurf denken kann gegen das herrschende entwicklungspolitische Paradigma. Da gab es Menschen in Deutschland, die dieses Konzept eingebracht haben, ich habe mir mal ein Interview auf der Website der Heinricht-Böll-Stiftung dazu angesehen, ein Interview von Hengameh Yaghoobifarah mit Emilia Roig.1 Ich war auch vorher schon auf Texte von Gruppen wie SisterSong2 – die das Konzept in die Diskussion gebracht haben – gestoßen, hatte mich aber zu dem Zeitpunkt noch nicht wirklich damit beschäftigt.

Das Konzept Reproduktive Gerechtigkeit ermöglicht mir letztendlich, darüber nachzudenken, wie die Möglichkeiten, das eigene Leben und Beziehungen zu Nahestehenden und Verbundenen zu gestalten, durch gesellschaftliche Machtverhältnisse geprägt sind. Also nicht eng gefasst auf Fertilität, Sexualität oder alles, was mit Familie zu tun hat. Sondern es geht darum soziale Gerechtigkeit in Verbindung mit reproduktiven Rechten zu denken, und das war für mich die Erweiterung des Konzepts reproduktive Gerechtigkeit, denn das ist weiter gefasst als die eigene Familie weiterführen zu können in irgendeiner Form. Und dann gibt es natürlich mittlerweile viele Leute, die das noch weiter denken und dann nicht nur andere Menschen und communities mit einbeziehen sondern sich auch überlegen, was das mit Umwelt und nicht-menschlichem Leben zu tun hat.

Welche Verbindung siehst du zwischen den Themen reproduktive Rechte, Entwicklungspolitik und Klimapolitik. Zum Beispiel in der EU-Policy, nach der vor allem Adaptionsmaßnahmen im Globalen Süden gefördert werden sollen, sodass nicht so viele Menschen migrieren am Ende. Siehst du dort Verbindungen oder könnte man da welche herstellen?

Definitiv sehe ich da Verbindungen. Erstmal muss ich sagen: Das Konzept der sexuellen und reproduktiven Rechte und Gesundheit3, das bei der UN Weltbevölkerungskonferenz in Kairo 1994 international verankert wurde, finde ich erstmal gut und richtig. Die Frage ist: Wie wird es verwendet? Für was wird es verwendet? Was wird dadurch ausgeblendet?

Es war klar, dass sich die internationale Bevölkerungspolitik nie verabschiedet hat von der Idee, dass es zu viele Menschen in armen Ländern des globalen Südens gebe. Solche Diskurse sollten mit dem Konzept von Rechten kompatibel gemacht werden, für das sich auch vor allem Frauengesundheitsbewegungen und feministische Bewegungen eingesetzt haben. Das geht aber nicht zusammen, das eine geht nicht mit dem anderen. Das „Committee on Women, Population, and the Environment“ hat das die ideologische Schizophrenie des Bevölkerungsestablishments genannt. Zu Zeiten, in denen der Klimawandel für den globalen Norden so ein großes Thema wird, wird dann offensichtlich, dass die Frage der Rechte eher hinten angestellt wird. Weil dann gesagt wird: “Es ist wirklich ein Problem, dass es zu viele Menschen gibt, weil sie Ressourcen nutzen und zum Klimawandel beitragen“. Dann geht es auch darum, dass diese „zu vielen“ Menschen in Folge von Klimawandel migrieren. Oder angeblich dafür sorgen, dass ihre Länder instabil werden. Es gibt diese Idee, dass es viele junge Männern ohne Jobs gäbe, die dann ihre Gesellschaften auseinander nehmen4 oder in den Westen migrieren. Sie werden als Unsicherheitsfaktoren gesehen. Die Einbettung von reproduktiven Rechten in solche Überlegungen finde ich natürlich total problematisch.

Das heißt diese Ideen aus Kairo ´94, sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte, lassen sich sowohl in Argumentationen zur körperlichen Selbstbestimmung einbetten, als auch in einen Diskurs über Überbevölkerung, der problematisch ist?

Ja auf jeden Fall, so sind sie ja auch überhaupt erst verankert worden. Sexuelle und reproduktive Rechte und Gesundheit sind ein Kompromiss zwischen denen, die immer noch an “Makro”-Zielen festhalten wollten und mit den Mitteln der Demographie gesellschaftliche Probleme und Ungleichheit bearbeiten wollen, und denen die eben für Rechte gekämpft haben. Man kann jetzt nicht sagen, dass das Konzept an sich schlecht ist. Man muss nur genau wissen, wer sich für bestimmte Machtkonstellationen, die nun einmal entstanden sind, eingesetzt hat, und wer nicht. Es gab ja auch Gruppen die gesagt haben: “Nee, da machen wir nicht mit bei diesem Kompromiss.” Ich glaube, dass dieser Kompromiss auf eine Art weiter fortbesteht. Mittlerweile aber sind die Akteur_innen gestärkt, die immer an der Reduzierung von Bevölkerung im globalen Süden festgehalten haben und an der Bevölkerungsgröße als maßgeblichen Indikator für Interventionen in Bezug auf Entwicklung. Sie waren durch die starke feministische antikoloniale Bewegung in Kairo etwas in die Defensive geraten, danach man konnte nicht mehr so offen über Bevölkerungspolitik und -kontrolle sprechen. Mittlerweile, ich würde sagen, seit der Jahrtausendwende, können sie ihre Position wieder offensiver vertreten.

Siehst du Möglichkeiten für Bündnisse im Widerstand, zum Beispiel die Idee von reproduktiver Gerechtigkeit in das Konzept von Klimagerechtigkeit einzubetten?

Das Konzept der Reproduktiven Gerechtigkeit hat den Faktor Umwelt letztendlich von Anfang an mitgedacht. Es ging ja darum, dass die Lebensbedingungen von Menschen Einfluss haben auf deren reproduktiven Entscheidungen, oder deren Möglichkeit überhaupt über ihr reproduktives Leben selbstbestimmt entscheiden zu können. Wenn das Wasser verschmutzt ist, kann also auch keine reproduktive Gerechtigkeit bestehen. Man kann reproduktive Rechte gar nicht wahrnehmen, wenn die Bedingungen nicht bestehen. Damals war der Klimawandel in den USA nicht das große Thema, aber Umweltverschmutzung und -zerstörung auf jeden Fall, was ja vor allem Schwarze communities und communities of Color getroffen hat, die dann das Konzept der reproduktiven Gerechtigkeit eingeführt haben. Communities, in denen die Lebensbedingungen einfach schlecht waren und Umweltzerstörung teilweise direkt die Gesundheit betroffen hat.

Ich weiß, dass es aktuell in der Klimagerechtigkeitsbewegung Kritik gibt an der Vorstellung des Anthropozäns oder auch dem Narrativ, dass wir jetzt, also erst jetzt, in einer Krise leben. Das kommt aus der Perspektive von Gruppen, die schon sehr lange immer wieder mit Krisen zu tun hatten. Und auch mit Krisen, die ihr reproduktives Überleben betroffen haben, also Bevölkerungsgruppen, die immer wieder Genoziden ausgesetzt waren. Insofern gibt es dort eine Diskussion, in der aus der Perspektive von Native Americans zum Beispiel, die eine andere Perspektive einfordern, und auch die unterschiedliche Betroffenheit von unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen hervorheben. Ich sehe also definitiv Anknüpfungspunkte, sie sind schon angelegt in dem Konzept reproduktive Gerechtigkeit. Für mich ist die Frage: Wie weit kann das gehen?

Ich habe mich jetzt ein wenig mit der Frage von multi-species reproductive justice beschäftigt, die von Donna Haraway in die Diskussion reingegeben wurde. Es geht darum, inwiefern wir auch nicht-menschlichen Tieren die gleichen Entfaltungsmöglichkeiten zugestehen. Finde ich eine total wichtige Frage, ist aber auch eine, die mit sehr vielen Problemen behaftet ist. Dem entgegen wird unter anderem die Kritik geäußert, dass wir erstmal allen Menschen überhaupt ermöglichen müssen, Teil der Menschheit zu werden, bevor wir darüber sprechen können, inwiefern Tiere die gleichen Rechte – wenn man dieses Konzept der Rechte anwenden möchte – haben können wie wir. Denn bestimmte Bevölkerungsgruppen wurden seit langem zu Tieren oder zu Objekten gemacht, und dadurch ihrer reproduktiven Rechte beraubt. Aber das sind Diskussionen, die geführt werden müssen und die sich wahrscheinlich auch innerhalb konkreter Kämpfe erst so richtig zeigen. Eine abstrakte Diskussion ist da vielleicht nicht so hilfreich. Die Kämpfe ums Überleben von Native Americans oder von afrokolumbianischen Communities zum Beispiel haben immer schon Umwelt und Menschsein zusammengedacht, weil Menschen abhängig davon sind, dass es auch der Natur gut geht. Und weil die Trennung von Mensch und Natur in den Kosmologien dieser communities auch gar nicht so stark gemacht wird; also Natur nicht als etwas gesehen wird, auf das man instrumentellen Zugriff hat und das sonst eigentlich nichts mit Menschen zu tun hat.

Bevölkerungskontrolle durch Entwicklungspolitik passiert mittlerweile stark auch im Namen des empowerments von jungen Frauen aus dem globalen Süden. Könnten Programme der Entwicklungszusammenarbeit nicht auch hilfreich sein, wenn zum Beispiel jungen Frauen in Sierra Leone der Bildungsweg ermöglicht werden soll und deswegen deutsche Entwicklungszusammenarbeitsgelder darin investiert werden, Teenagerschwangerschaften einzuschränken?

Ich glaube das Problem ist eher generell das Denken in „Entwicklung“. Die Frage ist doch: Geht’s darum, dass die jungen Frauen keine Kinder kriegen, weil sie sonst ihren Bildungsweg nicht fortsetzen können? Oder müsste es vielleicht darum gehen, dass junge Frauen, die Kinder kriegen, ihren Bildungsweg trotzdem fortsetzen können? Es kann nicht darum gehen eine bestimmte Vorstellung von “was ist gutes Leben” in diesem Fall in einem westafrikanischen Land irgendwie durchzusetzen; sondern die Kämpfe von Leuten vor Ort zu unterstützen. Ich weiß nicht, was die Wünsche von jungen Frauen in Sierra Leone sind. Möchten einige vielleicht Kinder kriegen, würden aber gerne weiterhin zur Schule gehen? Dann wäre das etwas, das unterstützt werden müsste. Oder wollen sie tatsächlich Zugang zu Verhütungsmitteln haben? Oder überhaupt die gesellschaftliche Position haben, dass sie entscheiden können, ob sie verhüten wollen oder nicht? Es geht ja ganz oft nicht nur um Zugang zu Verhütungsmitteln, sondern auch um Machtverhältnisse: Wer kann entscheiden, ob verhütet wird oder nicht? Was hat das mit den Krisen zu tun, die das Land durchlebt hat, und mit sexualisierter Gewalt in Nachkriegsgesellschaften? Welche Mittel stehen zur Verfügung? Was hat das auch mit Ungleichheit und Armut zu tun?

Und: Was hat da die deutsche Entwicklungspolitik jetzt zu suchen? Auf welcher Ebene kämpft man für Gerechtigkeit in der Welt? Es wäre vielleicht sinnvoller, sich die Handelspolitik der EU gegenüber Sierra Leone anzuschauen; hat das nicht viel mehr Einfluss darauf, welche Entfaltungsmöglichkeiten junge Frauen haben? Eine solche Intervention hat vielleicht weniger den klassischen „Entwicklungshilfe-Effekt“ – also das “Ich helfe da direkt den Personen” –, weil es dann auch eher unsere Privilegien hier angreifen würde. Weil Rohstoffe dann teurer werden und wir nicht mehr so billig shoppen können.

Generell ist die Ausblendung des lokalen, historisch-politischen und ökonomischen Kontextes ein Problem vertikaler Top-Down-Programme – das klassische Beispiel dafür wären zum Beispiel Impfkampagnen -, die eine Sache als Problem identifizieren und dann ganz viel Geld darin investieren. Da sind entwicklungspolitische Stiftungen wie die „Bill and Melinda Gates Foundation“ ganz weit vorne mit dabei, weil es natürlich gut zu vermarkten ist: “Wir bekämpfen HIV/Aids”, “Wir bekämpfen Malaria”, “Wir bekämpfen was-auch-immer”. Das Problem ist, dass es nicht eingebettet wird in eine generelle Verbesserung von Gesundheitsversorgung. HIV/Aids hat nicht nur was damit etwas zu tun, ob ich ungeschützten Verkehr mit diversen Partnern oder Partnerinnen habe, sonders das ist eine Krankheit, die auch etwas mit globaler Ungleichheit zu tun hat, die etwas mit Verarmung zu tun hat, die etwas mit Machtverhältnissen zu tun hat. Es geht ja nicht nur um Verhaltensveränderungen, sondern es ist deutlich komplexer. Eine Analyse dessen muss immer auch globale Gerechtigkeit und Gesundheitsversorgung umfassen, und da ist dann auch die Idee der reproduktiven Gerechtigkeit wieder interessant. Ist halt nicht so toll zu vermarkten, als wenn man Kampagnen gegen eine Krankheit macht.

Du hast vorhin schon kurz deine Doktorarbeit erwähnt und auch deine Zusammenarbeit mit Susanne Schultz. Ihr habt gemeinsam die Vermarktung des Hormonimplantats Jadelle untersucht. Was sind Hormonimplantate eigentlich und wie kommt es, dass solche Produkte vor allem im globalen Süden vermarktet werden und nicht hier bei uns in Deutschland?

Hormonimplantate sind Verhütungsmittel, die in die Innenseite des Oberarms operativ eingesetzt werden; je nach Hersteller sehen sie unterschiedlich aus. Es gibt zurzeit drei große Firmen, die das herstellen: Merck, Bayer und Shanghai Pharmaceuticals. Bayer ist eine deutsche Firma, und Merck eine US-amerikanische. Es gibt zwei Generationen von Verhütungsmittelimplantaten. Die erste Generation ist eine, die gerade zur Zeit der Kairo-Konferenz total kritisiert wurde, damals hieß das Implantat Norplant l. Es wurde insbesondere kritisiert, weil es schwere gesundheitliche Folgen für die Frauen hatte, denen das eingesetzt wurde. Jedes solches Implantat ist ein Verhütungsmittel, dass nur gebährfähige Menschen verwenden können, es wirkt drei bis fünf Jahre lang und ist auch nur operativ zu entfernen. Das heißt man ist angewiesen auf eine Person, die das per Operation dann wieder aus dem Körper rausnehmen kann. Frauen haben dann in den 80er und 90er Jahren viel über die Nebenwirkungen – also die gesundheitlichen Begleiterscheinungen – geklagt. Es gab dann auch Klagen in den USA und Neuseeland vor allem – also eher in den westlichen Staaten – gegen die Firmen, die es angeboten haben und dann wurde das auch in der Entwicklungszusammenarbeit nicht mehr verwendet. Um die Jahrtausendwende war das letztendlich diskreditiert – das Verhütungsmittel –, weil es nicht von den Nutzerinnen kontrolliert werden konnte, sondern nur von Gesundheitsfachkräften. Und darin war der Missbrauch quasi schon angelegt.

Es geht jetzt nicht unbedingt darum, dass eine Frau gezwungen wird, das einzusetzen; was aber auch passiert ist. Aber es gab zum Beispiel finanzielle Anreize in von Verarmung geprägten Kontexten, dass man zum Beispiel bestimmte Güter geschenkt bekommen hat, wenn man sich so was einsetzen ließ. Oder dass dann geraten wurde, es doch drin zu lassen und nicht rauszunehmen, obwohl die Nebenwirkungen so gravierend waren. Nebenwirkungen klingt immer so banal, aber das sind halt wirklich schwere Auswirkungen: permanente Blutungen oder eben gar keine mehr; oder Haarverlust, Depression; dieses Implantat hat sich teilweise auch bewegt im Körper, so dass es dann schmerzhaft war. Und klar, die ganzen anderen Sachen, was dann sowieso bei hormonellen Verhütungsmitteln auch eine große Rolle spielt, also Libidoverlust, Gewichtszunahme oder Gewichtsabnahme. Das klingt vielleicht nicht so schlimm, aber das hat extreme Auswirkungen auf das Leben von Menschen.

Diese Verhütungsmittel waren also eigentlich diskreditiert, kommen jetzt aber seit ein paar Jahren wieder; sie sind jetzt auch in der Entwicklungszusammenarbeit wieder total “en vogue” und werden über öffentlich-private Partnerschaften, Public-Private-Partnerships, vermarktet5. Dass dieses Verhütungsmittelimplantat im globalen Norden nicht so weit verbreitet ist, liegt vermutlich auch daran, dass es Widerstand dagegen gab – den es auch in anderen Ländern gab, aber hier war die Lobby deutlich stärker. Hier kann man leichter klagen, und tatsächlich mussten Firmen dann auch Schadensersatz zahlen.

Jadelle ist letztendlich Norplant 2 und dann gibt’s noch ein anderes Implantat, das nennt sich Implanon oder Nexplanon. Die funktionieren weiterhin wie die Alten. Sie sind ein bisschen technisch verbessert worden, sodass es jetzt beispielsweise weniger Stäbchen sind, wodurch sie leichter einzusetzen sind. Aber sie haben weiterhin den gleichen Wirkstoff, die gleiche Dauer und auch die gleichen Komplikationen.

Die ärztliche Aufklärung zu verschiedenen hormonellen Verhütungsmethoden ist in der BRD oft mangelhaft. Man fragt nach Pille, man bekommt die; wenn es einem danach nicht gut geht, soll man nochmal wiederkommen, aber viel mehr Beratung passiert auch nicht. Welche Rolle spielt die ärztliche Betreuung bei Hormonimplantaten?

Die Implantate werden ja interessanterweise empfohlen für Frauen, die einen schlechten Zugang zur Gesundheitsversorgung haben. Wenn sie irgendwo im ländlichen Bereich leben, wo es eine nicht so gute Gesundheitsversorgung gibt, dann lassen sie sich einfach alle fünf Jahre – oder alle drei Jahre, je nach Hersteller – dieses Implantat einsetzen und dann ist erstmal gut. Was totaler Quatsch ist, weil das deutlich enger gesundheitlich betreut werden muss, weil es eben diese Komplikationen geben kann. Genauso wie die Pille – jedes hormonelle Verhütungsmittel braucht ärztliche Betreuung, weil es eben diese ganzen Auswirkungen gibt, von denen man dann ja oft gar nicht weiß, ob die jetzt davon kommen oder von was anderem. Ich mein, das ist ja die Sache: Dein Körper verändert sich komplett! Darüber gibt es auch hier relativ wenig Diskussionen darüber.

Ich finde es immer wieder erstaunlich, dass ich mich zum Beispiel als Cismann nie damit beschäftigen musste. Also ich musste mich nie fragen: Will ich meinen Körper jetzt hormonell verändern, oder nicht? Die einzigen Diskussionen darüber, wie Männer ihren Körper hormonell verändern, ist ob sie im Fitnessstudio Mittel nehmen um den Muskelaufbau zu beschleunigen oder nicht. Und davor wird ja letztendlich viel gewarnt. Dagegen ist es ganz normal geworden, dass Frauen ihren Körper hormonell verändern sollen. Die Pille ist eine tolle Erfindung, aber sie ist trotzdem ein krasser Eingriff, über den mehr gesprochen werden müsste. Die Pille für den Mann wäre wahrscheinlich längst da, wenn es nicht weiterhin die Vorstellung gäbe, dass Frauen für die Verhütung zuständig sind.

Gibt es denn in dem Kontext von antinatalistischen Entwicklungspolitiken auch Überlegungen, Verhütungsmittel für Männer zu entwickeln?

Das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Also ich weiß, dass Männer von Sterilisationskampagnen auch stark betroffen waren und sind, in Indien zum Beispiel und ich denke auch in Peru. In Peru gab es in den 90er Jahren massive Sterilisationskampagnen, und da waren auch Männer betroffen. Nicht im gleichen Maße wie Frauen, aber auch beträchtlich. Ich hab aber auch gehört, dass es in Indien oftmals dann mehr Widerstand von Männern gab, gegen die Maßnahmen; was halt auch was damit zu tun hat, welche gesellschaftliche Machtposition Männer und Frauen haben.

Könnten Hormonimplantate nicht auch eine Möglichkeit sein für Frauen, deren Partner sich jeglicher Verhütung verweigern, sozusagen ohne deren Wissen Schwangerschaften zu verhindern?

Das ist ein Argument, dass immer für Hormonimplantate angebracht wird, aber auch für die Hormonspritze Depo-Provera. Mittlerweile gibt es in der Sparte auch mit „Sayana Press“ ein neues Produkt, für das man nicht mehr alle drei Monate zu einer Gesundheitsstation gehen muss, um die Spritze zu erhalten, denn die kann man sich selbst verabreichen. Das ist auf jeden Fall eine Möglichkeit – und wird auch so angepriesen –, damit sich Frauen ohne Wissen ihres Ehepartners oder ihres Lebenspartners gegen Schwangerschaft schützen können. Die Frage ist, ob das sozusagen der richtige Ansatz ist. Die großen Fragen – nach den Geschlechterverhältnissen zum Beispiel, dem Zusammenleben in Nachkriegsgesellschaften oder der Rolle von Religion – werden dann damit nicht angegangen, sondern es wird versucht, das Ganze dann technisch zu lösen. Letztendlich wird das gesellschaftliche Problem, dass Frauen nicht über ihren Körper verfügen dürfen, so nicht bearbeitet. Und das bezieht sich ja nicht nur auf den Fall von Verhütung. Dann findet zwar Verhütung statt, aber sexualisierte Gewalt wird zum Beispiel weiter passieren. Dafür gibt es keine technische Lösung.

Wie können Kämpfe für reproduktive Gerechtigkeit im globalen Süden aus dem globalen Norden solidarisch – also ohne „Entwicklungshilfe-Syndrom“ – unterstützt werden?

Wir haben letztes Jahr einen Workshop gemacht zu reproduktiver Gerechtigkeit, wo Menschen von der Erwerbsloseninitiative Basta, von Women in Exile, einer Geflüchteten-Selbstorganisation und von anderen Initiativen waren, wo wir uns darüber ausgetauscht haben, was das eigentlich bedeutet, mit diesem Konzept zu arbeiten, oder was für uns reproduktive Gerechtigkeit ist. Und das fand ich

einen guten ersten Schritt: also erst einmal dieses Thema hier als ein Thema zu verstehen. Weil ich glaube, dass so etwas wie Solidarität nicht entstehen kann, wenn wir nicht bestehende Probleme nicht auch hier vor Ort wahrnehmen. Kämpfe müssen sich verbinden – wenn es hier keine Kämpfe gibt, dann können wir uns auch nicht mit Kämpfen dort verbinden, und dann wird es halt Entwicklungshilfe: Jemand, der Experte für alles Mögliche ist, geht irgendwo hin und unterstützt da einen Kampf, den er oder sie zu Hause vielleicht gar nicht unterstützen würde. Ist ja in vielen Studien festgestellt worden, dass oft mit zweierlei Maß gemessen wird, beispielwiese durch Maria Eriksson Baaz‘ in ihrer Forschung zum Partnerschaftsdiskurs in der Entwicklungszusammenarbeit. Ich denke, dass das ein erster Schritt ist, sich hier für reproduktive Gerechtigkeit einzusetzen. Und da gibt es genug Möglichkeiten, zum Beispiel in Bezug auf reproduktive Gerechtigkeit zwischen arm und reich in Deutschland; reproduktive Gerechtigkeit für Frauen, die in Lagern leben müssen, die von der Asylgesetzgebung betroffen sind; von Frauen, die dem Harz-IV-Regime unterworfen sind, und auch nicht nur Frauen, sondern alle Menschen. Was bedeutet reproduktive Gerechtigkeit beispielsweise für Menschen, die im Gefängnis sind? Ich glaube durch eigene Organisierung wird es auch leichter zu identifizieren, wo die Verbündeten im Süden sind. Und vielleicht stellen wir dann fest, wenn wir uns damit beschäftigen, dass es eher Bewegungen im Süden sind, die uns unterstützen können, weil sie schon viel weiter sind in diesen Auseinandersetzungen.

Zusammenarbeit ist definitiv gut, das ist ja auch das, was in Kairo so spannend war: dass da einfach so viele Frauengesundheitsorganisationen und feministische Initiativen zusammen gekämpft haben. Ich war ja in der Zeit nicht Teil davon, aber mir wird immer nur erzählt, dass es in Deutschland zu der Zeit praktisch in jeder Stadt eine Bevölkerunspolitik-kritische Initiative gab. Davon sind wir gerade weit entfernt. Und das wäre etwas, wo man wieder anknüpfen könnte. Sich anschauen,

warum das damals geklappt hat und damit wieder anzufangen. Dieses Jahr findet in Nairobi 25 Jahre nach Kairo die Kairo+25 Konferenz statt und vielleicht gibt es da auch wieder kritische Stimmen. Ich glaube das ehrlich gesagt leider nicht, wenn ich mir das gerade so anschaue, aber es gibt Versuche, auch von Kolleginnen von mir, sich da zumindest wieder zu äußern. Und auch auf neue Entwicklungen hinzuweisen. Also das ganze Thema der angeblich gefährlichen jungen

Männern im Süden ist etwas, das unbedingt angegangen werden muss. Oder auch von den jungen Frauen im Süden als die neue Lösung, die jetzt auf einmal die Unternehmerinnen werden und ihre Gesellschaften in den neoliberalen Kapitalismus führen sollen. Das sind alles Entwicklungen, die problematisch sind. Genauso die großen public-private partnerships zu Verhütungsimplantaten und auch zu Drei-Monats-Spritzen, die letztendlich überhaupt keine kritische Begleitung erfahren: Es gibt keine kritische Forschung dazu, es gibt keine Kritik aus aktivistischen Kreisen daran – oder wenig! Oder wir kriegen sie hier in Deutschland nicht mit. Da gibt‘s auf allen möglichen Ebenen viel zu tun.

Wie sollten unter Berücksichtigung der Frage nach reproduktiver Gerechtigkeit zukünftige entwicklungspolitsche Investition aussehen?

Ich glaube das Problem ist, dass diese Fragen nicht innerhalb der Logik der Entwicklungspolitik zu lösen sind, weil die immer die Probleme im Süden bzw. bei Marginalisierten identifiziert und die Lösung im Norden oder bei westlich ausgebildeten Experten_innen… und das ist nicht, wie man globale Ungleichheit angehen kann.

1 https://www.youtube.com/watch?v=hXx5_HK-qjQ

2Organisation Schwarzer Feminist_innen in den USA, die das Konzept reproduktive Gerechtigkeit erstmals für politische Arbeit verwendete

3Sexual and reproductive health and rights (SRHR): Konzept der Menschenrechte, das auf Sexualität und Reproduktion angewendet wird

4Youth bulge: seit 1995 in der Demografieforschung verwendeter Begriff, der die Zunahme der Jugendlichen/jungen Erwachsenen bezeichnet, sodass es zu einer Ausstülpung in der Alterspyramide der Betreffenden Gesellschaften kommt.

5Mehr Informationen zur public-private-partnership FP2020 und dem „Jadelle Access Programme“ hier: https://www.gen-ethisches-netzwerk.de/pharmakonzerne/implantierte-verhuetung