Interview mit Kadiatou Diallo, Niki Drakos und Lea Ulmer

 

 

 

 

Gespräch zu rassistischen Dimensionen des institutionellen Kindesentzug

 

 

 

 

 

 

Gespräch zwischen Kadiatou Diallo (Space2Grow / Netzwerk reproduktive Gerechtigkeit), Niki Drakos (Frauenkreise / Netzwerk reproduktive Gerechtigkeit), Lea Ulmer (United Refugees Rights Movement Karlsruhe) und Susanne Schultz (als Interviewende vom Netzwerk reproduktive Gerechtigkeit)

Netzwerk reproduktive Gerechtigkeit, Berlin am 19.12.2022

 

 

Susanne Schultz: Als allererstes würde ich mich freuen, wenn Ihr Euch vorstellen könntet: Wie seid Ihr jeweils dazu gekommen, Euch mit dem Thema institutionelle Wegnahme von Kindern zu beschäftigen?

 

Kadiatou Diallo: In unserer Beratungsstelle, wo es um Empowerment und reproduktive Gesundheit für geflüchtete Frauen und Migrant*innen geht, haben sich immer wieder Frauen mit dem Anliegen an uns gewandt, dass sie Probleme rund um das Thema Inobhutnahme von Kindern hatten. Normalerweise verweisen wir die Frauen an andere Stellen, wenn wir zu einem Thema nicht arbeiten. Aber wir haben recherchiert und kamen zu dem Ergebnis, dass es nicht allzuviele darauf spezialisierte Beratungsstellen gibt, die den Frauen helfen können. Oder es fehlt bei den wenigen existierenden Stellen, wie der Berliner Beratungs- und Ombudsstelle Jugendhilfe, an Kapazitäten. Und so fingen wir an, das selbst zu machen. Wir tun das insbesondere dann, wenn wir merken, es geht hier um eine besondere, eine rassistische Situation. Dann begleiten wir die Frauen, so wie wir können.  Wir haben zwar das Knowhow nicht, aber wir überlegen mit Anwält*innen und den Familien zusammen, was gemacht werden könnte. Anwält*innen haben uns beraten, wie wir damit in etwa umgehen können und wir machen eben learning by doing.

 

Niki Drakos: Ich kann mich Kadiatou anschließen, da ich auch Teil des Teams bin. Ich bin zwar nicht aktiv in Space2Grow, aber ich arbeite bei den Frauenkreisen, an die Space2Grow angebunden ist. Space2Grow hat vor der Pandemie sehr dezidiert zum Thema Frauengesundheit gearbeitet, also zu Verhütung, Schwangerschaftsvor- und nachsorge oder Abtreibung. Aber in der Pandemie fing es an, dass wir Space2Grow viel mehr geöffnet haben für viele Arten der Hilfe, der Assistenz und Begleitung. In diesem Zusammenhang ist dann auch der erste Fall von Inobhutnahme an uns herangetragen worden.

 

Lea Ulmer: Ich komme vom United Refugees Rights Movement in Karlsruhe, in dem ich seit 2014 Unterstützerin bin. Am Anfang waren wir von Anfragen zum Thema Inobhutnahme, die es immer mal wieder gab, sehr überfordert; das war nicht unser Kompetenzbereich. Zum ersten Mal bin ich 2017 mitgegangen zu einem Jugendamtstermin mit einer Frau, der die drei Monate alte Tochter weggenommen worden war und die nur sehr wenige Umgangstermine bekommen hatte. Eine weitere Frau haben wir schon vor der Inobhutnahme unterstützt. Sie war aber wesentlich besser informiert als wir und ist deswegen vor dem Familiengerichtstermin mit ihren Kindern nach Italien geflohen. Denn sie hatte Angst vor einer Inobhutnahme. Wir haben dann mitbekommen, dass sie nicht die einzige ist, die aus Deutschland deswegen flieht. Das betrifft auch Menschen, die schon Aufenthaltstitel haben. Die Geschichte dieser Familie hat uns aufmerksam gemacht und wir haben uns intensiver mit dem Thema befasst. Seit 2020 sind 11 Personen bzw. Familien deswegen auf uns zugegangen. Manche haben wir länger begleitet, andere nur kurz.

 

Susanne: Sicherlich gibt es ja Situationen, in denen Kinder nicht bei ihren Eltern bleiben können, insbesondere in Situationen von Gewalt. Aber Ihr sprecht ja alle drei von rassistischen Machtverhältnissen die eine Rolle dabei spielen, warum Kinder ihren Eltern weggenommen werden und warum Eltern nicht zugetraut wird, ihre Kinder gut zu betreuen. Könnt Ihr das beschreiben? Wie wirkt sich der Rassismus auf die Inobhutnahme aus?

 

Niki: Ich kann ja mal einen Aspekt reinbringen. Es fängt schon mit dem strukturellen Rassismus an. Personen sind prinzipiell innerhalb eines rassistischen Systems benachteiligt, wenn es um Zugänge zu Rechten geht. Allein schon die Tatsache, dass Leute hierher flüchten mussten, hat etwas mit Rassismus zu tun. Und dann landen sie im System der deutschen Bürokratie und sind darin hilflos, kennen sich nicht aus, haben kein Netzwerk, kennen die Sprache nicht, kennen das System nicht. Und schon allein deswegen werden sie auch nicht mit demselben Respekt und mit derselben Sorgfalt, mit derselben Rechenschaftspflicht behandelt wie eine weiße deutsche Person oder Familie. Darin steckt etwas strukturell Rassistisches - damit geht es schon los. Dahinter braucht gar keine persönliche rassistische Einstellung zu stehen. Das sind normalisierte, oft unbewusste Vorgänge oder Anlässe, warum in diesem System schnell mal Standards unterwandert werden oder einfach beiseitegelassen werden. Statt die Umwege zu gehen, zu denen die Institutionen eigentlich verpflichtet sind, agieren sie ganz direkt und ohne Umschweife und nehmen das Kind weg.  Das ist ein Aspekt.

 

Susanne: Kadiatou, Du hast ja vorhin schon beschrieben, dass Ihr merkt, wenn bei bestimmten Fällen Rassismus eine Rolle spielt. Woran merkt ihr das?

 

Kadiatou: Schon, wenn wir uns die Begründungen für die Inobhutnahme ansehen, wird etwas deutlich. Schon in den Akten können wir da einiges erkennen. Wichtig ist aber: Hintergrund davon sind oft stereotype Einstellungen gegenüber migrantischen oder geflüchteten Personen - mit der grundlegenden Idee, dass sie sich nicht gut um ihre Kinder kümmern. Es werden bestimmte europäische oder westliche Standards als Norm gesetzt, wie mit Kinder interagiert werden sollte. Aber was ist das Problem? Warum soll zum Beispiel eine Familie aus Afghanistan genau diese Normen reproduzieren wie sie in Deutschland gelten? Und wenn das Kind schon weggenommen wurde, dann kommen noch viele weitere Barrieren hinzu: Sprachbarrieren und auch die Schwierigkeit, die eigenen Interessen behördlich durchsetzen zu können. Ich möchte ein Beispiel geben: Eine Frau hatte ein Kind bekommen und musste nach der Geburt im Krankenhaus bleiben, weil sie erkrankt war. Ihr Mann sagte aber, dass er sich neben den beiden anderen Kindern  nicht auch noch um dieses dritte, das Neugeborene, kümmern könne. Und er bat darum, dass das Kind noch einen Monat bei ihr im Krankenhaus bleiben könne. Als die Frau aus dem Krankenhaus entlassen wurde, hatte der Mann inzwischen entschieden, das Kind dem Jugendamt zu übergeben. Es gibt in dieser Geschichte keinerlei Vorwurf von Gewalt gegen sie. Und sie selbst hat nie zugestimmt, ihr Kind dem Jugendamt zu übergeben. Dennoch kämpft sie nun schon seit zwei Jahren darum, ihr Kind zurückzubekommen. Aber nichts ist seitdem passiert! Inzwischen geht das auch gar nicht mehr so einfach: Das Kind spricht nur deutsch und die Mutter spricht nur Dari. Ihr wird jetzt auch psychische Instabilität vorgeworfen. Aber sie versorgt ja ihre zwei anderen Kinder, warum sollte sie das nicht mit ihrem dritten Kind tun können? Das ist so ein typisches Beispiel.

 

Lea: Die Erfahrungen, die Kadiatou beschreibt, kann ich anhand unserer Erfahrungen auch bestätigen. So etwas ist bei uns auch schon vorgekommen. Wo es schon anfängt ist, dass Rassismus in den offiziellen Berichten und Dokumenten nie als relevantes Thema auftaucht. Relativ oft werden schwarzen Kindern von Schulen oder Kindergärten Verhaltensauffälligkeiten diagnostiziert. Dann wird erklärt, sie seien aggressiv, und es werden Therapien verordnet usw. Wenn wir aber die Mutter fragen, dann sagt sie zum Beispiel, es gebe einfach so viele rassistische Vorfälle in der Schule, das Kind säße oft morgens vor der Haustür und traue sich nicht, in die Schule zu gehen. Sie sei enttäuscht, weil Lehrer*innen bei rassistischen Vorfällen das Kind nicht unterstützten. Bei einem Fall kam heraus, dass eine Erzieherin das Verhalten eines kleinen Mädchens seltsam gefunden hatte. Sie hatte das Mädchen gefilmt, wie es sich in die Ecke zurückzieht und vor- und zurückwippt. Und dann filmt sie dieses Kind und schickt das an das Jugendamt und sagt, das Kind verhält sich komisch. Rassistisches Verhalten von Betreuer*innen in der Kita oder Schule kommt aber überhaupt nicht als relevanter Faktor vor. Vielmehr wird schnell die Frage gestellt: Machen da die Eltern nicht irgendetwas falsch? Da wird immer erstmal bei den Eltern geguckt. Auch die Mehrsprachigkeit von Kindern wird oft nicht als etwas Wertvolles gesehen, sondern als Defizit. Statt Sprachförderung zu machen, gibt es dann pathologisierende Maßnahmen wie Logopädie – das geht dann mit Stigmatisierung einher. Und immer wieder gibt es diese Frage: Was machen die Eltern falsch?

 

Niki: Ich würde gerne noch was ergänzen. Es gibt generell ein starkes Narrativ, dass deutsche Erziehung etwas ganz Tolles ist, unheimlich fortschrittlich und nah am Kind usw. - und dass ja alle anderen es nicht drauf haben. Das steht nirgendwo, aber das schwingt die ganze Zeit sowieso schon mit. Das ist das eine. Zum anderen gibt es auch so etwas wie eine Instrumentalisierung. Dass das Jugendamt auf den Plan kommt, hat manchmal auch etwas mit Wohnen zu tun. Nachbar*innen oder auch Vermieter*innen wollen zum Beispiel eine Familie rausmobben – und melden die Familie beim Jugendamt. Begründet wird das zum Beispiel so: Die Kinder schreien; die Leute gehen mit den Kindern nicht richtig um; das Kind weint die ganze Zeit. Da werden dann solche Angaben gemacht. Das ist nicht an den Haaren herbeigezogen: Ich habe das selbst erlebt. Der Schwarze Vater meines Sohnes hatte eine Vermieterin, die ihn gerne so schnell wie möglich raushaben wollte  Sie hat uns dann einfach random beide als Eltern beim Jugendamt angezeigt. Wir mussten mit unserem Sohn dort antanzen und sie haben dann mit uns und unserem Sohn separat gesprochen. Zum Glück ging alles gut. Aber was, wenn unser damals 5-jähriger Sohn einen schlechten Tag gehabt hätte? Wenn zwischen uns Dissonanzen sichtbar geworden wäre – die es natürlich auch mal gibt? Kurz: Diese Institution wird auch benutzt, und es wird  gewusst oder angenommen, dass das schnell geht in Deutschland.  Auch die Antidiskriminierungsstelle, die sich mit Wohnen beschäftigt, bestätigt, dass es solche Strategien gibt. Es gibt also sowohl solche instrumentalisierenden Strategien, als auch die weiße und eurozentrische Deutungshohheit, was gutes Elternsein beinhaltet und was nicht. Ich hatte mal ein Gespräch mit einem Jugendamtsmitarbeiter in Reinickendorf, der für einen Fall zuständig war. Er hielt es für legitim, dass die Mutter die Kinder nicht zurückbekommt, weil sie Analphabetin ist. Sie könne ja den Kindern gar nicht mit der Schule helfen. Und sie würde ja so viel kochen die ganze Zeit und würde ihre Liebe durch Kochen zum Ausdruck bringen – das sei doch nicht normal. Zudem würde sie ein patriarchales Muster reproduzieren. Da kommt also dieses Narrativ vor: Wir sind ja hier total emanzipiert; es sind die anderen, die sexistisch sind und patriarchal. Das sind klassische stereotype Begründungsmuster.

 

Lea: Andersherum habe ich es auch schon erlebt: Auch eine Überschreitung heteronormativer Normen wird rassistisch ausgelegt: Es ging um eine Roma-Familie. Da ist die Mutter Vollzeit arbeiten gegangen und der Vater hat sich um sieben Kinder gekümmert, um alle Arzttermine und um alles. Und ihm wurde dann vorgeworfen, er würde nicht arbeiten. Hier wird auch ein rassistisches patriarchiales Bild reproduziert, eine unterschwellige Unterstellung, er sei arbeitsscheu und beute seine Frau und den Staat aus. So herum geht es auch. Wie es gerade passt.

 

Susanne: Wie ist denn die Situation in Geflüchteten-Unterkünften? Da sind ja die Lebensbedingungen für Kinder sowieso oft sehr schlecht. Dennoch wird die schwierige Lage oft auf die Einzelnen projiziert – könnt Ihr Beispiele beschreiben, wie das Jugendamt da agiert?

 

Kadiatou: Das ist auch ein wichtiger Punkt: Kinder erleben da auch eine Art von Gewalt – nicht direkt von ihren Eltern, sondern von dem System der Lagerunterbringung.  Die Bedingungen stimmen oft überhaupt nicht. Die Kinder sind oft traumatisiert von der Flucht und kommen hierher und leben in einem 25 Quadratmeterzimmer mit fünf oder sieben Kindern, alle zusammen. Sie teilen sich die Toiletten, Bäder und Küchen mit anderen Leuten – und das manchmal über mehr als drei Jahre lang. Das ist psychologisch anstrengend für diese Familien. Das ist keine gute Situation für Kinder – und dafür ist auch das System der Unterbringung verantwortlich. Und wenn dann in der Kita festgestellt wird, dass ein Kind gestört ist, kann auch das ein Grund sein: dass es keine Privatsphäre gibt. Es muss nicht daran liegen, dass die Eltern die Kinder schlagen oder so. Wenn das Jugendamt das Wohlergehen der Kinder sichern will, dann sollte es in die Bereitstellung oder den Zugang zu angemessenen Lebensräumen für Familien investieren. Denn ein prekärer Lebensraum ist bereits eine Form von Gewalt.

 

Susanne: Wollt Ihr noch weitere Fälle nennen, die typisch sind für Formen der institutionellen rassistischen Gewalt?

 

Lea: Ich habe ein Beispiel herausgesucht, in dem viele Dimensionen des Themas vorkommen. Es ging um eine alleinerziehende Frau mit drei Kindern. Der Sohn konnte, bis er dreieinhalb Jahre alt war, nicht hören. Die Mutter hatte das immer wieder gesagt, wurde aber lange von den Ärzt*innen nicht richtig ernstgenommen. Der Junge bekam also erst mit dreieinhalb Jahren eine Operation und fing da erst an, zu hören und sprechen zu lernen. Er hat ein aggressives Verhalten entwickelt, hat eingepinkelt. Die Mutter sagte immer: Ich habe eben ein schwieriges Kind; es braucht viel Unterstützung und hat sich auch sehr darum bemüht. Sie hat dann auch irgendwann eine Familienhilfe bekommen. In dieser Zeit hat in der Kita eine Erzieherin bei der Schwester von dem Jungen gemeint, eine Schlagverletzung festgestellt zu haben. Das war aber ein Pigmentfleck auf dem Rücken, den das Mädchen seit der Geburt hatte. Die Erzieherin konnte die schwarze Haut nicht lesen und hat das  gleich dem Jugendamt gemeldet – als riesigen blauen Fleck. Die Mutter ist sofort zum Arzt gegangen und hat sich den Pigmentfleck attestieren lassen. Trotzdem hat das dazu geführt, dass bis zu vier Familienhelfer*innen rund um die Uhr, manchmal auch gleichzeitig, in die Familie kamen, um zu beobachten, ob sie die Kinder schlägt. Die Wohnung war sehr eng; das wurde auch immer mal wieder zum Problem erklärt. Auf jeden Fall ist der Sohn in dieser Situation völlig durchgedreht, hat seine Schwester gebissen und auch die Betreuer*in gebissen. Dann wurde gesagt: Der muss jetzt in die Klinik – und die Mutter musste unterschreiben, dass sie dem zustimmt. Hier kam auch eine Drohung ins Spiel, dass sie sonst auch abgeschoben werden könnten. Es war dann aber keine Klinik, sondern ein Kinderheim; und in diesem Kinderheim ist er nun seit eineinhalb Jahren. Sie hat am Anfang nur einmal im Monat für eine Stunde Besuchszeiten bekommen. Wir haben uns dafür eingesetzt, dass sie ihn jetzt öfters sehen kann. Aber was steht in den Berichten? In den Berichten steht überhaupt kein Kontext; es wird nur festgestellt, dass er aggressiv ist und Sprachdefizite hat. Er würde zuhause nicht ausreichend gefördert und bekäme zu Hause ungesundes afrikanisches Essen. Er sei übergewichtig gewesen und die Mutter sei nicht in der Lage, ihre Erziehungskompetenzen zu verbessern. Wir haben mehrmals schriftlich nachgefragt, was sie denn eigentlich verbessern soll. Diese Frage wurde aber nicht beantwortet. Die Ursachen für seine Schwierigkeiten stehen in den Berichten nicht drin, zum Beispiel, dass er mit dreieinhalb Jahren noch nicht hören konnte. Der Kontext wird ausgelöscht und alles, woran sich Erziehungsfähigkeit messen lassen kann, steht drin. Wir bleiben weiter dran: Die Frau ist unglaublich stark, ist eine Kämpferin. Und wir sind optimistisch, dass es klappt, dass er zurück in die Familie kommen kann. Aber jetzt hat er schon eineinhalb Jahre Zeit in diesem Heim verbracht, ohne dass es einen Grund gab, warum er diese Förderung nicht zuhause hätte bekommen können.

 

Kadiatou: Wenn das Kind erst einmal weggenommen ist, gibt es immer wieder das Problem, dass der Kontakt der Eltern zu ihrem Kind verhindert wird. Manche Leute reagieren zum Beispiel sehr emotional auf die Inobhutnahme und gehen einfach direkt dahin, wo das Kind hingebracht wurde, wenn sie das wissen. Dann haben sie es mit weiteren Vorwürfen und weiteren Verfahren zu tun – jenseits des Verfahrens, ihr Kind zurückzufordern. Denn es wird gesagt, das sei übertrieben, oder es wird unterstellt, dass sie ihr Kind ins Ausland bringen wollen. Manchmal fallen auch verabredete Termine aus. Es gibt Probleme an vielen verschiedenen Stellen. In Kontakt zu bleiben, ist sehr wichtig, denn diese Prozesse dauern sehr lang. Aber es gibt so viele Barrieren: Sprachbarrieren, institutionelle Barrieren. Viele Eltern, die zu uns kommen, sind hilflos und wissen gar nicht, wie sie das machen sollen. Das System ist so, dass erwartet wird, dass die Eltern immer wieder und immer wieder nachhaken, um permanent am Ball zu bleiben und um kleine Fortschritte machen zu können. Wenn sich die Eltern aber nicht rühren und nicht selbst aktiv werden, interpretiert das Jugendamt das als Desinteresse an dem Kind. Das stimmt aber nicht, sondern sie wissen oft einfach nicht, wie das läuft. Außerdem müssen wir auch von der Seite der Kinder her darauf achten, wie ihnen der Kontakt zu den Eltern ermöglicht wird. Denn was auch passiert, ist, dass Kinder am Kontakt zu der Familie gehindert werden. Ein Beispiel ist der Fall eines 13jährigen Mädchens, die einfach mit ihrem Handy selbst den Kontakt zu ihren Geschwistern aufrechterhalten hatte. Sie ist auch zu unserem Fest gekommen zusammen mit ihrer Mama, mit der sie ebenfalls Kontakt hatte. Die Betreuer*innen wussten aber nichts von diesen Kontakten. Merkwürdig ist, dass das Mädchen, nachdem eine Mitarbeiterin davon erfahren hatte, ganz plötzlich keinerlei Kontakt mehr zu ihren Geschwistern und ihrer Mama aufnahm, obwohl sie das vorher immer selbst freiwillig getan hatte. Seit zwei Monaten hören sie absolut nichts mehr von ihr.

 

Susanne: Was könnt Ihr denn ganz konkret tun in der alltäglichen Unterstützung der Leute?

 

Niki: Ein wichtiger Aspekt der Unterstützung ist es, die Geschichte, die die Leute erzählen, ernst zu nehmen und zu spiegeln, dass die Art wie sie behandelt werden, nicht in Ordnung ist. Ich sage das deswegen, weil Kadiatou auch schon die Erfahrung gemacht hat, dass auch bei Anwält*innen oder Leuten, die innerhalb der institutionellen Strukturen beraten, oftmals ein gewisser Hang dazu da ist,  skeptisch gegenüber den Anliegen zu sein. Rassistische Einstellungen oder Narrative lassen sie den Verdacht hegen dass… dass vielleicht doch was dran ist an dem, was das Jugendamt sagt. Es ist also wichtig, erst einmal eine solidarische Umgebung zu schaffen und den Raum zu schaffen, um gemeinsam überlegen zu können, wie wir die Leute unterstützen können.

 

Susanne: Kadiatou, wie begleitet Ihr denn konkret die Eltern? Und ward Ihr auch schon vor Gericht?

 

Kadiatou: Das ist unterschiedlich. Wir nehmen zum Beispiel Kontakt zum Jugendamt auf, begleiten sie zu Treffen und übernehmen die Übersetzung. Wenn das Jugendamt sagt, wir melden uns zurück und das dann nicht tun, dann schicke ich eine Email und frage nach, wie der Stand der Dinge ist. Manchmal antworten sie allerdings auch uns darauf nicht. Es ist oft überhaupt nicht zu verstehen, warum sie nicht reagieren. Oder suchen wir Anwält*innen für die Leute, wenn sie keine haben. Wir haben auch Kontakt zu einer anderen Beratungsstelle aufgenommen, der Berliner Beratungs- und Ombudsstelle Jugendhilfe, und Leute dorthin geschickt. Bisher haben sie in diesen Fällen aber auch nicht weiterhelfen können. Insgesamt ist es wichtig, wie Niki sagt, dass wir zuhören und dass wir den Leuten glauben, was passiert ist. Das macht schon einen Unterschied.

 

Niki: Es kann wichtig sein, dass die amtlichen Stellen signalisiert bekommen, dass die Leute nicht allein sind und dass sie den Eindruck bekommen, dass ihre Arbeit beobachtet wird. Sie wissen dann, dass sie nicht nach Belieben agieren können, ohne dass das hinterfragt wird - sondern dass das unter Umständen Konsequenzen hat. Das ist auf jeden Fall ein guter  Effekt, als Organisation auf den Plan zu treten: Wir zeigen, dass wir den Fall kennen, wir erklären, dass wir dies und das nicht verstehen und dies und das fordern. Wir sind auch mit einem Fall einer Mutter, deren vier Kinder getrennt voneinander in Obhut genommen wurden, vor Gericht gegangen. Es handelt sich um eine Mutter, die sich aus einem Gewaltverhältnis getrennt hat. Die Kinder waren von dem Vater dem Jugendamt übergeben worden, nachdem er die Mutter misshandelt hatte und sie ins Krankenhaus gebracht worden war. Sie hat sich daraufhin von ihm getrennt. Und trotzdem sind die vier Kinder verteilt worden: die beiden älteren in ein Kinderheim und die beiden jüngeren separat in zwei Pflegefamilien. Das jüngste Kind spricht die Sprache der Mutter gar nicht mehr. Das ist auch noch ein weiteres Problem: Die Kinder werden nicht in Familien vermittelt, in denen die Muttersprache erhalten bleibt. Das wäre ja so ein Minimum, das unbedingt gewährleistet werden müsste, damit die Kinder später in der Muttersprache kommunizieren können.  In diesem Fall ist es uns immerhin gelungen, da wir vor Gericht gegangen sind, dass die beiden älteren Kinder nach vier Jahren Heim, nun wieder bei der Mutter leben. Aber über die beiden Jüngeren wird derzeit noch verhandelt.

 

Susanne: Wie konnte es kommen, dass inzwischen schon vier Jahre vergangen sind?

 

Niki: Das liegt auch daran, dass die Personen nach einer Inobhutnahme oft hilflos sind oder auch die falsche Unterstützung bekommen, also zum Beispiel an Leute geraten, die ihnen Geld abziehen, aber nichts machen. Die Zeit vergeht und es werden Fakten geschaffen.

 

Susanne: Lea, wie arbeitet Ihr denn konkret unterstützend in Eurer Gruppe?

 

Lea: Wir arbeiten sehr ähnlich, wie es auch Kadiatou berichtet hat. Wir sind eine kleine Gruppe, aber treffen uns wöchentlich zu unserem Plenum. In der Gruppe sind etliche Betroffene, teilweise schon lange. Wir besprechen neue oder laufende Fälle und erzählen den Stand der Dinge. Alle können dann zunächst einmal kommentieren, wie sie die Sache einschätzen. Dieser Austausch ist sehr wichtig; denn nur Erfahrungswissen hilft uns da weiter. Schließlich wird sich ja ganz oft nicht an Vorschriften oder Gesetze gehalten, und es geschehen ganz andere Dinge als offiziell vorgesehen. Dann überlegen wir, wie wir die Person unterstützen können. Das fängt bei Übersetzen und Briefe lesen an. Die Frauen wissen in den meisten Fällen noch nicht einmal, was ihnen vorgeworfen wird. Wir versuchen also die Situation einzuschätzen, wie gefährlich sie ist und in welchem Moment eines Verfahrens wir uns gerade befinden. Der zweite wichtige Teil ist dann, in die Narration einzugreifen. Es entstehen ja viele Berichte, die irgendwann einmal vor Gericht relevant werden können. Es ist also wichtig einzugreifen, wenn da falsche Dinge stehen oder der Kontext ausgeblendet wird.  Wir fordern dann schriftlich, dass das korrigiert oder aufgenommen wird und arbeiten dafür mit Anwält*innen zusammen. Wenn in Deutschland etwas nicht auf dem Papier steht, dann gibt es das nicht bzw. findet im bürokratischen Prozess keine Berücksichtigung. Deswegen müssen wir sehr viel verschriftlichen. Das ist ein Problem, weil viele Leute dafür auf Unterstützung angewiesen sind, um sich mit der Sprache, der Behördensprache und den spezifischen Textformen auszukennen. Das macht auf jeden Fall einen großen Teil unserer Arbeit aus.

 

Susanne: Du meintest, dass vorgeschriebene Verfahrensweisen oft nicht eingehalten werden. Kannst Du ein Beispiel nennen?

 

Lea: Zum Beispiel reicht für eine Inobhutnahme nicht aus, dass ein Kind woanders besser gefördert werden könnte. Es gibt Gerichtsurteile vom Bundesverfassungsgericht, die das bestätigen.[1] Dennoch werden Inobhutnahmen manchmal so begründet. Zudem müssen die Erziehungsberechtigten immer ein Mitspracherecht haben. Ihnen muss transparent gemacht werden, was ihnen vorgeworfen wird und dass die Gefahr besteht, dass ihnen die Kinder entzogen werden. Das ist oft nicht der Fall. Oft sind die Leute völlig überrascht, wenn die Polizei da steht und sie ihnen die Kinder wirklich aus den Händen reißen. Das sind schreckliche Situationen. Eine weitere Vorgabe ist, dass das Ziel immer sein sollte, die Kinder wieder zurückzuführen, wie es Kadiatou gesagt hat. Das ist eigentlich Vorschrift, wird aber nicht gemacht.

 

Niki: Auch gibt es die Vorgabe, Geschwister möglichst nicht zu trennen, aber das geschieht regelmäßig.

 

Kadiatou: Ich würde auch unterstützen, was Lea zu den Kontexten gesagt hat. Oft ist das, was geschrieben steht und was der Kontext ist, völlig unterschiedlich. So lebte zum Beispiel eine Frau neben einem Nachbarn, bei dem dann herauskam, dass er pädophil war. Die Kinder von ihr und von ihm gingen in dieselbe Schule. Der Frau wurde vorgeworfen, dass sie nicht auf ihre Kinder aufgepasst hatte. Aber ihre Tochter war einfach nur zu ihren benachbarten Schulfreund*innen  gegangen. Dieser Mutter wurde auch vorgeworfen, dass sie nicht emotional reagiert hätte, als sie von der sexuellen Gewalttat gegen ihre Tochter erfuhr - dass sie das kalt gelassen habe. Nachher habe ich mit ihr darüber gesprochen und sie gefragt, was sie über diesen Vorwurf denkt und sie sagte: Nein, ich war so schockiert, dass ich mich in mich zurückgezogen habe. Ich konnte nichts sagen, weil ich so geschockt war. Dieser Vorwurf, dass sie keine Emotionen habe, war sehr hart. Aber was ist eine angemessene Reaktion? Die Mitarbeiterin des Jugendamtes wollte, dass sie weint oder was?

 

Susanne: Bei den Fällen schwingt ja oft mit, dass es neben dem Rassismus auch noch weitere damit zusammenspielende Dimensionen von Machtverhältnissen gibt. Trifft es zum Beispiel besonders alleinerziehende Frauen oder besonders psychisch erkrankte Personen? Wie interpretiert Ihr Eure Erfahrungen aus einer intersektionalen Perspektive?

 

Lea: Nach meiner Erfahrung überschneiden sich sehr viele Aspekte, die aber zusammenspielen und je nachdem, um welchen Rassismus es geht, auch unterschiedliche Ausprägungen haben. Ich schreibe ja in meiner Dissertation über die Wegnahme von Kindern in Hinblick auf unterschiedliche Rassismen - den Rassismus gegen Sintezze und Romnja und  den antischwarzen Rassismus. Es gibt verschiedene Rassismen, die sich auf unterschiedliche Weise mit anderen Machtverhältnissen verschränken. Bei afrikanischen Familien kommt zum Beispiel immer wieder das Thema, das Essen sei ungesund. Es kommt immer wieder vor, dass vorgeworfen wird, das Körpergewicht der Kinder sei zu hoch. Wenn es Behinderungen oder Erkrankungen gibt, wird sehr schnell ein erzieherisches Versagen verdächtigt. Der Mutter wird oft unterstellt, sie habe eine Depression oder psychische Probleme. Und wenn es tatsächlich psychische Probleme gibt,  gibt es weniger eine unterstützende Reaktion, als dass diese Probleme weiter verstärkt werden - und für die Mutter wird alles noch schwieriger. Dazu habe ich auch ein krasses Beispiel mitbekommen, aber darauf möchte ich nicht näher eingehen. Die rechtliche Prekarität spielt auch eine große Rolle. Das geteilte Wissen über geringe Bleibeperspektiven führt dazu, dass unterstellt wird, die Familie habe hier sowieso keine Zukunft, da zum Beispiel der Vater sicherlich bald abgeschoben wird. Es spielt immer mit, wenn jemand in einer prekären aufenthaltsrechtlichen Situation ist, als weitere Dimensionen der Diskriminierung. Sprachprobleme werden als Unverständnis interpretiert; es wird vorgeworfen, dass die Leute zu dumm sind, die Verfahrensregeln zu kapieren. Oder Familienkonstellationen sind relevant: In einem Fall gab es zwei Väter, die aber nicht bei der Frau gewohnt haben, aber sich beide um die Kinder gekümmert haben. Für die Jugendamtsmitarbeiter*innen war das eine komplette Überforderung. Die Väter wurden als familiäres Unterstützungsnetzwerk völlig ignoriert. Oder die Anzahl der Kinder, also mehr als zwei Kinder zu haben, wird so interpretiert, dass sich die Menschen nicht unter Kontrolle haben oder dem Sozialstaat auf der Tasche liegen – und wird sowieso automatisch damit gleichgesetzt, überfordert zu sein. Ein weiteres Thema ist die Unterstellung, Sexarbeit zu betreiben, und die Frage: Wo ist das Kind während dieser Arbeit? Oder, wenn die Person wirklich Sexarbeit macht, wird das kriminalisiert. Meine Liste ist wirklich lang…

 

Niki: Ich würde ganz allgemein und zusammenfassend sagen, dass Klasse und Klassenzugehörigkeit eine zentrale Dimension ist. Ich weiß nicht, wie das nach Eurer Erfahrung ist, Lea, aber unserer Erfahrung nach sind alle Betroffenen Leute, die auch finanziell am Strugglen sind.  Das ist ein Motiv, das die ganze Zeit präsent ist – und das macht auch Sinn; schließlich gibt es eine große Überschneidung mit Rassismus. Dazu kommen Zuschreibungen zum Bildungsstatus, darüber haben wir ja schon gesprochen.

 

Susanne: Gerne würde ich jetzt nochmal auf den Rahmen eingehen, innerhalb dessen wir hier diskutieren, nämlich die Frage der reproduktiven Gerechtigkeit. Das Recht, Kinder unter guten Bedingungen aufziehen zu können, ist ja eines der Forderungen. Inwiefern findet Ihr es wichtig, das Thema der Inobhutnahme in diesen Rahmen einzubringen – und wie könnte die öffentliche politische Diskussion und Intervention dazu aussehen?

 

Lea: Niki hat ja darauf schon am Anfang des Gesprächs hingewiesen. Das Problem ist ja, dass Rassismus, Prekarität und das Aufenthaltsrecht schlechte und schädliche Voraussetzungen dafür schaffen, um gut leben zu können, und dementsprechend eben auch dafür, dass Kinder unter guten Bedingungen groß werden können. Deswegen ist es wichtig, diese Themen aus einer Perspektive der reproduktiven Gerechtigkeit zu denken, weil dann auch Ermöglichungsbedingungen gedacht werden können. Also wie können Menschen unter guten Bedingungen leben, damit es nicht zu dieser konkreten Situation kommt, in der darüber entschieden wird,  ob ein Kind in Obhut genommen werden soll oder nicht. Mir wird oft vorgeworfen – und ich mache mir den Vorwurf auch selbst - dass ich die Eltern verteidige und sage: Nein, die haben keinen Fehler gemacht – das institutionelle System macht ihnen diese Vorwürfe zu Unrecht! Eigentlich finde ich es auch falsch, so zu reagieren. Denn zu reproduktiver Gerechtigkeit gehört auch das Recht, Fehler machen zu können, nicht perfekt zu sein, Schwierigkeiten zu haben, zu struggeln – und das Recht, sich Hilfe suchen zu können, ohne stigmatisiert zu werden. Das finde ich ganz wichtig, auch um uns überhaupt vorstellen zu können, wie bessere Bedingungen aussehen könnten. Wenn es immer nur über Schuldig oder Nicht Schuldig geht als Option, dann können sich die Dinge nicht verbessern.

 

Niki: Für mich ist das Wort Gerechtigkeit in diesem Kontext so wichtig. Denn das, was zu den Inobhutnahmen führt, sind oft Lebenssituationen, die gar nicht so außergewöhnlich sind. Es gibt ja keinen Führerschein fürs Elternsein. Aber 99,9 Prozent der Eltern kommen überhaupt nie in die Lage, so einer Untersuchung unterzogen zu werden - also dass ihre Erziehungsmethoden hinterfragt werden. Es gibt so vieles, was gewaltvoll oder schädlich ist, angefangen von seelischer Kälte. Es gibt keine perfekte Erziehung. Das macht das Wort Gerechtigkeit so vielsagend in diesem Zusammenhang, der so auffällig ungerecht ist. Bei diesem Thema sieht mensch so deutlich, wie alles zusammenkommt: Es hilft Dir nicht, Dich gegen oder für ein Kind entscheiden zu können, wenn hinterher die Bedingungen eine solche Katastrophe sind! Bei diesem Thema wird sehr deutlich, dass es nicht nur um individuelle Personen geht, sondern auch um Strukturen und Institutionen.

 

Kadiatou: Ich stimme meinen beiden Vorredner’innen absolut zu. Bevor wir überhaupt über Inobhutnahme reden, sollten wir darüber reden, von welchen prekären Lebensbedingungen die Leute, denen dies geschieht, betroffen sind. Es braucht doch gute Bedingungen, um es überhaupt zu ermöglichen, Kinder gut aufziehen zu können. Darunter leiden die Familien, die Kinder und letztendlich alle. Ich finde die Frauen, die ich in meinen Workshops kennenlerne – nicht nur die, die von Inobhutnahme betroffen sind, sondern auch alle anderen – oft sehr stark. Sie leben in so schwierigen Situationen und sind trotzdem freundlich. Sie haben so eine Power und Motivation. Nach einem Workshop mit ihnen fühle ich mich oft selbst empowered. Ich lerne da einen Mut und eine Courage kennen, die ich sonst kaum erlebe. Wir leben hier in dem reichen Deutschland direkt nebenan von Menschen, die unter sehr schlechten Lebensbedingungen leben. Das sollte nicht so sein. Diese Kinder gehen in die Schule und treffen andere Schüler*innen, die eine viel bessere Lebensqualität haben. Und die Vorstellung, dass alle sich genau gleich verhalten sollen, ist falsch. Denn schon als Kind hat jeder und jede ein völlig anderes Zuhause und eine andere Realität. Schon für Kinder sind die Chancen extrem ungleich verteilt. Und wenn wir dann die Kinder auch noch den Eltern wegnehmen, werden Familienleben ganz zerstört – wegen solcher Stereotype und solcher Clichés. Das hinterlässt große Schäden bei den Kindern, denn manche von ihnen können die Situation überhaupt nicht einschätzen. Sie denken vielleicht, sie bleiben nur zwei oder drei Tage weg. Derzeit sprechen wir ja hauptsächlich mit den Eltern und über die Eltern. Aber ich weiß gar nicht, wie sich die Kinder fühlen. Ich kann mir kaum vorstellen, was es für ein Kind heißt, wenn der Kontakt zu den Geschwistern unterbunden wird. Kinder sind nicht wie Erwachsene – sie streiten sich in einer Kindergruppe und zwei Minuten später spielen sie wieder zusammen. Sie haben ein anderes Zeitgefühl und eine andere Wahrnehmung von den Dingen.

 

Niki: Ich habe noch einen Gedanken dazu. Ich finde, wir können das gar nicht überbewerten, wie wichtig die eigenen Wurzeln sind. Ich mag das Wort eigentlich nicht so gern, aber gerade als migrantisierte Person – und das sage ich selbst als Kind von Migrant*innen – ist es für meine Identität und mein Selbstverständnis wichtig, eine Verbindung zu haben zu meinen Ursprung, auch um zu verstehen, warum ich so behandelt werde. Wo komme ich her, welche Verbindungen habe ich in der Welt zu welchen Ländern, Menschen, Kontinenten, Landschaften, Geschmäckern, Gerüchen und Gefühlen. Ein Kind daraus so herauszureißen und auch von der Sprache abzutrennen, das finde ich grausam. Es ist wichtig zu reflektieren, was es für rassifizierte, migrantisierte Kinder bedeutet, wenn sie in weiße Familien hineinkommen. Werden diese Familien irgendein Bewußtsein für die rassistische Diskriminierung haben, die diese Kinder erleben werden?. Können sie damit umgehen? Werden sie das Kind stärken? Was wird geschehen? Da passieren ja dann wahrscheinlich noch ganz andere Verletzungen – on Top.

 

Susanne: Danke, ich finde Ihr habt sehr eindrücklich gemacht, dass es bei der reproduktiven Gerechtigkeit um viel mehr geht als um Wahlfreiheit oder um die einzelnen Individuen – und dass es höchst problematisch ist, völlig isoliert nur auf die Erziehungsfähigkeit von individuellen Müttern oder Eltern zu schauen. Die gesamten Lebensbedingungen von Eltern und Kindern politisch in den Blick zu nehmen, ist sicher eine große Herausforderung. Aber ich habe den Eindruck, wir können viel über reproduktive Gerechtigkeit lernen, wenn wir so wie Ihr uns mit dem Thema Inobhutnahme befassen. Wie denkt Ihr denn, das Thema konkret politisch anzugehen?

 

Niki: Wir sind ja gerade in einer ersten Organisierungsphase. Wir vernetzen uns und schauen, was an verschiedenen Orten passiert und was verschiedene Initiativen dazu wissen. Was sind gemeinsame und was sind unterschiedliche Erfahrungen? Es scheint ja kein Berliner oder süddeutsches Phänomen zu sein, sondern flächendeckend zu passieren. Es wird nicht reichen, nur juristisch vorzugehen, sondern es wird auf politisches Handeln hinauslaufen müssen – früher oder später. Dabei müssen wir berücksichtigen, wie schwierig es für Eltern ist, sich in einen politischen Kampf zu begeben. Schließlich geht ja um ihre Kinder! Mit diesen Ängsten wird sicher auch unterschwellig kalkuliert. Die Leute können sich nicht einfach öffentlich mit den Institutionen anlegen und laut werden. Denn das kann ja auch mal nach hinten losgehen und ihre Situation weiter erschweren. Schließlich ist die Macht ja auf der Seite der Institution. Deswegen ist es wichtig, dass mehr Organisationen sich damit befassen, dass es einen guten investigativen Journalismus dazu gibt und dass wir auf ein Level kommen, wo dieser Protest eine solche Kraft bekommt, dass etwas in Bewegung kommt. Wir brauchen so eine Art Me-too-Inhobhutnahme-Bewegung. Denn wenn erstmal einige Fälle öffentlich gemacht werden, dann werden sicher noch viele weitere Stories ans Licht der Öffentlichkeit kommen.

 

Lea: Ich glaube es gibt zum Thema Rassismus und Wegnahme von Kindern wirklich sehr viel zu tun. Unterstützungsstrukturen betroffener Communities fordern zum Beispiel verpflichtende und regelmäßige rassismuskritische und diskriminierungssensible Schulungen in den Behörden und für Sozialarbeiter:innen, um überhaupt erst einmal den verantwortlichen Personen eine Sensibilität dafür zu geben, was sie eigentlich tun und ihnen andere Möglichkeiten aufzuzeigen. Wie Niki sagt, stehen wir am Anfang, uns mit anderen zu organisieren und überhaupt das Problem erst einmal zu erfassen und dann sichtbar zu machen. Wir versuchen, die schädlichen Muster zu verstehen, bei der institutionelle Hilfe für marginalisierte Eltern zu Stigmatisierung und rassistischer Gewalt wird und zu Kindesentzug führt. Nur so können wir verstehen, was wo wann schief läuft und Alternativen vorschlagen, beziehungsweise konkrete politische Forderungen aufstellen. Voraussetzung dafür ist, hinter den Betroffenen zu stehen, ihre Geschichten zur Grundlage der politischen Arbeit zu machen, und ihre Wünsche und Forderungen zu vertreten. Im Gegensatz zu den offiziellen Unterstützungsstrukturen versuchen wir, dass Betroffene mit unserer Unterstützung ihre eigene Geschichte wieder selbst in die Hände bekommen – damit sie verstehen, was passiert und aktiv mitagieren und eingreifen können.

 

 

 

 

 

 

[1] BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 19. November 2014 - 1 BvR 1178/14 -, Rn. 1-57,
http://www.bverfg.de/e/rk20141119_1bvr117814.html